Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Verwaltungsbeamten absolut neu gewesen zu sein. Ihre Hausaufgaben haben diese Beamten jedenfalls nicht gemacht! Wo waren diese Leute während des Krieges? Ich wage kaum, es mir vorzustellen. Ich schäme mich – für die Ämter, für meine Mutter. Was für eine Erniedrigung, sich derart anbiedern zu müssen. Sie beschreibt in ihrer unerschütterlich pingeligen Art haargenau jedes Möbel und dessen Position im berühmten »runden Haus« in Zagreb, und dass der Flügel, ein Bösendorfer aus Wien, enteignet worden sei. Die Enteignung, so entschuldigt sie sich, sei geschehen, ohne dass sie es habe verhindern können.
Mein Gott! Man hätte doch diesen gebeutelten Nachkriegskreaturen allein aus Dankbarkeit, dass sie überhaupt wieder deutschen Boden betraten, die Staatsbürgerschaft hinterhertragen müssen! Sie großzügig einladen, sie auf Knien bitten, in Deutschland zu bleiben, statt sie mit zentnerschweren Anträgen erneut zu demütigen! Ich wäre gerade gerne überall, in Amerika bei Onkel Albert, in Kanada, sogar in der Schweiz, nur nicht hier in Deutschland. Ich schäme mich so sehr. Und ich koche vor Wut.
Ich muss Raffi anrufen.
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
»Halb zwei?«, rate ich.
»Viertel nach drei, aber kein Problem, um was geht’s?«
Es ist hell, als ich den Ordner zuklappe, aus dem ich Raffi vorgelesen habe. Er hat drei Stunden zugehört, jetzt sagt er: »Komm, lass uns treffen und frühstücken.«
»Manchmal bist du ein Schatz.«
»Ich weiß«, sagt er.
Wir haben »Frühstück Royal« bestellt, es schmeckt ausgesprochen gut. Wir sprechen über alles Mögliche, verlieren kein Wort über die Akten. Was soll man dazu auch sagen? Zwischendurch niese ich, die Stauballergie ist hartnäckiger als jeder Mundschutz.
»Ich bin frisch verliebt«, gesteht Raffi nach einer Weile. Ich rechne heimlich nach, die Letzte hat ihn doch gerade erst vor einer Woche verlassen und ist beleidigt nach Tel Aviv abgereist? Er habe seine neue Liebe noch gar nicht kennengelernt, fährt er fort, er habe nur über E-Mail mit ihr verkehrt. Ich finde das – sagen wir – mutig. Für mich wäre das nichts, ich rieche immer gern an Dingen.
Wenn Raffi gute Laune hat, ist er von unschlagbarem Charme. Er ist höflich und geistreich, hat sogar Interesse an seinen Mitmenschen. Wenn seine Internetfreundin vor ihm stehen wird, wird er diese gute Laune unbedingt brauchen. Na, was geht’s mich an.
»Was macht die Geschichte mit deinem Bruder?«, wirft er beiläufig ein.
»Keine Ahnung«, murmele ich. »Ich habe nicht weitergesucht. Stell dir vor, ich hätte noch weitere Geschwister, wo soll das enden? Soll ich mit der Suche nach ihnen meinen Lebensabend verbringen?« Ich klinge betont lässig. Wahrscheinlich heißen eh alle Adriana oder Adriano …
»Aber was? Das ist das Wichtigste überhaupt!« Er ist ehrlich entrüstet. »Wir fahren hin, gemeinsam. Ich komme mit.«
Die Vorstellung, zusammen mit Raffi in Zagreb vor der Haustür meines Bruders zu stehen, irritiert mich. Als wäre nicht einer von uns beiden schon genug fürs Unglück.
»Nicht jetzt«, erwidere ich. »Das Wetter in Zagreb … Regen, Wind. Wie immer im Herbst. Vielleicht ein andermal. Außerdem will ich die Papiere zu Ende ordnen …«
»Meine Liebe«, Raffi bekommt einen nörgelnden Ton, »sogeht das nicht. Wir müssen den Dingen auf den Grund gehen, auch wenn sie ernüchternd sind. Gerade dann!«
Sätze, die mit »Meine Liebe« anfangen, verderben mir generell den Appetit. Ich schiebe meinen Obstjoghurt zur Seite.
»Solange du das mit deinem Bruder nicht geklärt hast, kommst du nicht weiter. Es wird dich als schwarzes Geheimnis immer belasten, du wirst keine Ruhe haben. Die Papiere sind tot, aber dein Bruder lebt!«
»Blödsinn! Werd jetzt nicht auch noch pathetisch! So viele Menschen wissen nur Ungefähres von ihren Brüdern oder Halbbrüdern und werden trotzdem Ärzte, Bürgermeister, Förster.«
»Eine gute Freundin von mir, sie ist Schriftstellerin«, fährt Raffi unbeirrt fort, »hat gerade erfahren, dass ihr Vater gar nicht ihr Vater ist. Ein Denunziant aus Russland hat bei ihr angerufen und die Bombe hochgehen lassen. Jetzt hat sie eine Schreibblockade und möchte sterben.«
Ich starre Raffi an. Was für eine Geschichte, sehr animierend. Raffi ist nun in Fahrt und möchte mit großer Geste in meinem Leben Ordnung machen. In diesem Moment klingelt sein Handy. Er läuft rot an, stammelt etwas und läuft zum Telefonieren aus dem Lokal.
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