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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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Herrentoilette des Borchardt entführt worden zu sein, keine Spur von ihm weit und breit.
    »Bitte?«, schreit jetzt der Dicke: »Sie wollen mir vorschreiben, was mir nicht gefällt?«
    »Mein Gott«, schreie ich jetzt zurück. »Ich kenne Sie doch gar nicht. Geben Sie mir meine Serviette zurück und halten Sie Abstand. Vielleicht sind gerade Sie so ein ›Kotzbrocken‹. Nur kotzen Sie mit anderem Inhalt!«
    Ein Gelächter bricht aus diesem Monstrum hervor. Der Zahnstocher macht sich los und landet knapp neben meinem rechten Auge.
    »Herrlich! Sie sind ja ein Herzchen. Nicht wie die anderen. Nee, mit Humor! Kotzbrocken mit Inhalt! Humor haben Sie ja, herrlich. Richtiggehend Humor! Ich muss los, gebe Ihnen mal meine Karte. Schicken Sie mir mal was von sich. Ich tue was für Sie, Herzchen – herrlich. Und grüßen Sie mir Ihren tragischen jüdischen Freund Raffi.« Er steht auf und geht.
    Ich starre ihm fassungslos hinterher. Was hat der denn genommen? Oder fantasiere ich jetzt schon in der Öffentlichkeit?
    »Siehst du?«, Raffi steht plötzlich hinter mir. »Ein kleiner Einblick in die Gehirne des deutschen Kulturbetriebs. Das ist der Durchschnitt, alles andere ist Ausnahme. Jetzt sag mir: Wenn es in den Gehirnen so aussieht, wie soll es im Bett oder in der Liebe anders sein?«

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    aktenberge
    Adriana, na endlich. Wo warst du denn die ganze Zeit, wir haben lange auf dich gewartet. Hat dir Zagreb nicht gefallen? Es ist doch deine Geburtsstadt! Du nimmst alles zu persönlich!
    Wir haben uns Sorgen gemacht, uns gefragt, ob du wohl gar kein Interesse mehr an uns hast. Du bist ja plötzlich fort und warst doch gar nicht fertig mit uns und all den schönen Dingen aus der Vergangenheit. Schau mal, was wir noch alles für dich haben. Du wirst dich wundern. Komm, komm mit! Nein, wir sind nicht beleidigt. Wir wollen nur unser Recht. Sei froh, dass du uns hast!
    Meine Dibbuks sitzen auf der Kellertreppe und empfangen mich mit vorwurfsvollen Mienen. Todesmutig steige ich hinab und komme mit zwei Koffern und einem Karton wieder hinauf. Am 13. Oktober, Freitag, dem 13. Oktober – für die Chassidim ein Glückstag, heißt es. Ich nehme Platz auf dem alten Perserteppich, in einem Arbeitsoverall, mit meiner Lesebrille auf der Nase und mit einem Mundschutz gegen den Staub. Wenigstens vor meiner Allergie kann ich mich schützen. Vor mir die zwei hellbraunen Lederkoffer mit all den Papieren, die ich schon so lange durchgehen wollte … Es ist ein Reflex, ich weiß nicht, warum ich tue, was ich tue, herumwühle in diesem staubigen Allerlei, weiß nicht genau, wonach ich suche. Ich tue es und weiß, dass ich am nächsten Morgen aussehen werde, als sei ich die Überlebende.
    Wieder habe ich die Zeichnungen meiner Mutter in den Fingern. Vom Lager, von der Fahne am Lagereingang, von Blanka Weinreb. Sie scheinen mir mehr Auskunft zu geben als Worte. Zwischen den Zeichenblättern liegen ein paar Fotos. Die beiden Schwestern posierend beim Starfotografen von Zagreb. Jelka trägt eine Perlenkette und Thea strahlt. Wie hübsch sie sind!
    Jelka auf der Promenade von Split 1941. Am Arm von Fritz Epstein. Fritz ist mager. Er hält Jelka ganz fest, aber er wird es nicht schaffen, sie mit nach Australien zu nehmen.
    Ein Gruppenfoto in Bačvice, dem Strandbad von Split. Frühling 1941, steht hinten auf dem Foto. Meine Mutter und meine Tante haben die Mäntel über den Arm gelegt, die Sonne scheint, die jungen Männer um sie herum tragen Hüte. Nur noch wenige Tage und das alles wird vorbei sein – für immer und ewig.
    Dieses Wissen lässt jedes Foto unwirklich erscheinen. Meine Großmutter mit ihrem Mann, ihrer Schwester, ihrem Schwager. Die Fotografie stammt aus Wien, ich glaube, den Heldenplatz zu erkennen. Ein halbes Jahr später sind alle auf dem Foto außer meiner Großmutter tot, ermordet.
    Es ist eben etwas anderes, ob ein Foto mit dem winzigen Hinweis »unbekannt« im Jüdischen Museum hängt, oder ob diese zwei Mädchen an der Hand einer schönen Dame meine Mutter und Tante sind und die Hand der schönen Dame meiner Großmutter gehört.
    Es gibt erstaunlich viele Fotos, Briefe und Dokumente dafür, dass sie durch den Holocaust hindurchmussten.
    Dazwischen ein Brief aus New York. Er ist vom April 17th 1962 und mein Onkel Reverend Albert Altaras schreibt:
    To whom it may concern.
    This is to certify that I, Rev. Albert Altaras, am able and willing to take care ofmy brother, Dr. Jakob Altaras, Assistant Professor on the medical

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