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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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erlaubt ist – und wenn es auch blödsinnig und böse ist: Es wird akzeptiert und womöglich noch verschönert.
    Sonst wäre es ja nicht möglich, die wenigen Ausnahmen, die etwas abweichend denken, nicht zu Worte kommen zu lassen. Die Ohnmacht, in die man versetzt wird, fällt einem sehr schwer – da kaum einer von der Meute Verständnis dafür hat.
    Die Machtausübung dieser Meute ist eigenwillig, aber konsequent. Das Gefühl, stark zu sein, gibt ihnen auch die Kraft, die Macht zur Geltung zu bringen. Politisch sind sie das, was man im Moment braucht, was gerade Mode ist. Die Parteizugehörigkeit ist nur eine zusätzliche Möglichkeit, die Meute, in der man ist, zu stärken. Im Grunde feige und uninteressiert, wenn es um einen außerhalb der Meute geht.
    Ist das wirklich von meiner Mutter oder hatte sie zu viel Canetti gelesen?
    Ich will Raffi anrufen, es ihm vorlesen, aber er ist nichterreichbar. Vielleicht sollte ich mir einen Whiskey einschenken, obwohl: am helllichten Tag? Ich werde den Verdacht nicht los, dass meine Mutter alles vorsätzlich gesammelt und archiviert hat. Es muss eine Absicht dahintergesteckt haben. Sie kann unmöglich daran gedacht haben, dass ich, ihre Tochter, eines Tages vor dieser Sammlung sitzen und sie Stück für Stück durcharbeiten würde. Ebenso akribisch und manisch, wie sie das alles einst gesammelt hat. Oder doch? Ist es eine Art Vermächtnis? Ein Appell: Lass dir nichts vormachen! Es ist genau so und nicht anders gewesen!
    Der Whiskey ist 30 Jahre alt und noch aus den Restbeständen der Wohnungsauflösung meiner Eltern … Wie gut, dass sie mir den überlassen haben. Oder war auch das Absicht?
    Endlich erreiche ich Raffi. »Hör mal« fange ich an, aber er fällt mir ins Wort:
    »Morgen fliege ich nach Paris!«, schreit er in den Hörer, »nach Paris, mit ihr, meiner großen Liebe!«
    »Welcher Liebe?« Ich bin überrumpelt. »Wohin?«
    »Na, die aus dem Internet, die jüdische Amerikanerin. Ich bin so glücklich, wir werden heiraten, Kinder bekommen. Sie ist ein Traum. Nach dem Eiffelturm und ein paar Petits Fours werden wir zurückkommen. Wir wollen den Alltag in Berlin erleben. Wir werden zusammen leben. Bei mir. Wir melden uns.«
    »Raffi, warte! Alles ist ein Plan! Die Dokumente, die Akten! Für uns! Verstehst du?«
    »Die Zeitungen sind voll von Sarkozy und Carla Bruni. Was für ein Vorbild für uns! A bientôt, ma petite amie!«
    »Sarkozy hat Segelohren und stellt sich auf die Zehenspitzen, um Carla überhaupt küssen zu können. Aber er ist immerhin Präsident«, rufe ich in den Hörer. Doch Raffi hat schon aufgelegt.
    Paris. Vielleicht sollte ich nach Paris auswandern?
    Als ich dreizehn war, zeigten meine Eltern mir Paris. Meine Mutter hatte dort ein Jahr studiert. Sie kannte sich aus, zeigte mir ihre Lieblingsplätze, die von da an auch meine wurden. Wir nahmen den Schlafwagen am Heiligabend.
    Sobald die Weihnachtsfeierlichkeiten begannen, buchten meine Eltern regelmäßig einen Schlafwagen, und wir fuhren ins Ausland. Ich war am ersten Weihnachtstag morgens schon in Zürich, Rom oder Amsterdam aufgewacht. Hauptsache, nicht in Gießen, wo die anderen gemütlich um den Weihnachtsbaum saßen. Mir tat es immer leid, wurde ich doch über Wochen in der Waldorfschule auf die Ankunft Jesu vorbereitet, mit Liedern, Gedichten und dem Basteln von Adventsschmuck und Geschenken. Und nun: wieder nichts. Meine Eltern bemühten sich, den Mangel an Christentum durch den Reichtum an Reisen wettzumachen. Aber kein Ort, nicht einmal der schönste, der frei gewesen wäre von unserer speziellen Geschichte. Kein Tag, an dem die Vergangenheit uns nicht einholte und mit uns spazieren ging. In Paris, Zürich oder Brüssel, wohin auch immer uns der Nachtzug gerade entführt hatte.
    Ich war auch in Paris, aber es liegt mir gar nicht, höre ich meine Tante.
    Ich habe deine Mutter in Paris besucht, 1952, nein, 53. Sie hatte schrecklich viel zu tun, und so bin ich allein in dieses Museum gelaufen, dieses Holocaustmuseum, da hab ich sie zum ersten Mal gesehen: Die Tafeln mit den ganzen Namen, Fuhrmann Leo, Fuhrmann Vladko, Fuhrmann Zlata, da habe ich zum ersten Mal das Ausmaß verstanden, es waren alle tot, alle. Millionen. Die ganze Nacht hab ich nicht schlafen können. Ja, natürlich wussten wir, Bruchstücke, Details, aber das Große und Ganze habe ich an diesem Morgen in Paris verstanden. Die Namen der Toten, die ganzen Namen der Toten.
    Paris ist auch Vichy. Und Paris ist auch offener

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