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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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Antisemitismus heute. Charmant ausgeprägt vielleicht, französisch eben, aber vorhanden. Da lob ich mir mein unerotisches Deutschland: Es hat – zunächst verordnet, dann nach 68 geradezu in einem Aufarbeitungswahn – verhältnismäßig viel seiner dreckigen Geschichte thematisiert. Und ist noch dabei, es zu tun. Nein, Paris ist auch keine Alternative. Die Finkelsteins und Goldenbergs in der Rue des Rosiers tun mir leid. Sie verkaufen lustige Kippas mit bunten Stickereien und anderen Judenkitsch an Touristen. Sie wirken bedrückt. Blass und jenseitig schauen sie durch die Scheiben ihrer Geschäfte nach draußen, während Ströme von Touristen zu ihnen hereinschauen. Vrais Juifs!
    Raffis Paris wiederum hat mit alldem nichts zu tun, natürlich nicht, es ist das Paris der Liebe, und das geht immer, irgendwie. Sogar für jemanden wie ihn.
    Der Whiskey ist wirklich gut. Ein edler Tropfen, das ist mir dieser Aktenmarathon wert, der sowieso nie mehr enden wird, jedenfalls nicht in meinem Jahrhundert.
    Die Dokumente, die ich diesmal hervorziehe, sind noch älter, sie betreffen die Eltern meiner Mutter.
    Meine Großmutter Hermine Fuhrmann, geborene Lausch, kam am 23. Februar 1895 in Veliki Bukovec in Kroatien zur Welt. 1919 wurde sie die Frau von Sigismund Fuhrmann, meinem Großvater, geboren 1881 im ungarischen Bonyhád. Anfangs war Sigismund ein einfacher Glasbläser. Ich halte seinen Lehrbrief aus dem Jahre 1901 in den Händen. Er ist in Sütterlin geschrieben, unterzeichnet von Jakob Groß, Glas-, Porzellan- und Sodawasserfaktorei aus dem jugoslawischen Vukovar. Oben rechts prangt ein österreichischer Stempel: Habsburger Doppeladler, die k. u. k., österreichische Großmonarchie.
    Ich finde Aufstellungen seines Vermögens. Aus der Inflationszeit der Jahre 1927 bis 1929 ein Bündel Schuldscheine:Er hat vielen Leuten Geld geliehen, in Millionenhöhe. Er sieht auf dem Foto seines Reisepasses von 1932 aus wie ein deutscher Offizier: weißhaarig, stramm, wichtig. Ein Mann, der weiß, was er wert ist.
    Hermine bekommt einen Brillanten aus Antwerpen. Ich finde die Wertgarantie für diesen Stein neben Sigismunds Totenschein aus dem Jahre 1941. An den Totenschein angehängt ist der Taufschein meiner Großmutter. Taufschein?
    Zusammen mit meiner Mutter lässt sich meine Großmutter bald nach der Beerdigung ihres Mannes taufen. Meine Mutter erhält zusätzlich den Namen Franziska. Sie heißt nun Thea Franziska Fuhrmann. Meine Tante Jelka lässt sich nicht taufen.
    Das christliche Bekenntnis sollte Hermine nicht lange helfen. Wenige Wochen später muss sie fliehen. Es gelingt ihr, sich mit ihren Töchtern einige Monate lang zu verstecken. Schließlich werden sie im Zug erwischt und deportiert. Ich finde ihren Lagerausweis, ausgestellt von Italienern: Campo Internati Civili Porto Re. Die Italiener hatten von den Deutschen sofort mit dem Beistandspakt 1941 die Verwaltung des eroberten Kroatien übertragen bekommen, somit waren sie auch die Leiter der Konzentrationslager, Gott sei Dank, denn als sie kapitulierten, öffneten sie die Lagertore und ermöglichten allen inhaftierten Juden die Flucht. Die Ustascha beschwerten sich häufig bei den Deutschen über die Laxheit der Italiener den Juden gegenüber. Warum sind einige Völker judenfreundlicher als andere?, geht mir durch den Kopf.
    Tag ihrer Ankunft: 1. November 1942. Das Feld »giorno dell’uscita dal campo« (Tag der Abreise aus dem Lager), ist nicht ausgefüllt. Ein ärztlicher Befund vom Frühling 1945 aus dem amerikanischen Militärkrankenhaus Santa Maria di Leuca, Süditalien: Sie stellen bei meiner Großmutter eine halbseitige Gesichtslähmung als Folge des Lageraufenthaltsfest. Arme Baka, so kannte ich sie: schief im Gesicht, dabei sehr höflich. Sie sah aus wie ein trauriger Clown. Ich konnte sie hervorragend nachmachen. Sie nahm es mir nicht übel, kochte mir stattdessen »Paradeissuppe« oder machte Palatschinken und gab mir einen schiefen Kuss.
    In derselben Mappe finde ich drei Briefe: Drei Verwandte schreiben meiner Großmutter. Sie haben überlebt, aber der Krieg hat sie weit auseinandergetrieben.
    Im ersten Brief ihrer Nichte Julka, 1949 aus Melbourne, schreibt diese, es gehe ihr gut – trotz allem. Der zweite ist aus Banghalore, von Tante Rosa. Sie tut sich schwer mit dem dortigen Klima. Doch bald wird sie ihrem Sohn nach Los Angeles folgen. Ob es da auch so schwül sei? Ach, das gute Wien fehle ihr so, trotz allem … Der dritte Brief stammt von Nichte

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