Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Im Nieselregen sehe ich ihn aufgeregt hin und her gehen. 2020 werde ich mit Raffi nach Zagreb fahren. Ich habe noch ein paar Jahre, um mich seelisch darauf vorzubereiten. Gemeinsam werden wir vor der Tür meines angeblichen Bruders stehen und klingeln. Ich werde höflich fragen: »Sind Sie mein Bruder?« Wenn er »Ja« sagt, haben wir etwas zu feiern. Sagt er »Nein«, habe ich immer noch Raffi.
»Sie kommt! Am Freitag.« Raffi steht pitschnass vor unserem Tisch.
»Wer kommt am Freitag?«, fragen ich und die Kellnerin unisono.
»Meine Brieftaube!«, säuselt Raffi. Er ist glücklich. Seine Wangen haben einen Hauch Farbe bekommen. Er sieht aus wie ein Mensch. Mich und meinen Bruder hat er, Gott sei Dank, vergessen.
Sobald ich zu Hause bin, mache ich mit den Papieren weiter. Die Kinder sind in der Schule, mein Mann auf der Probe, und außerdem hagelt es: der beste Moment, um mir den Karton mit der Beschriftung RESTITUTION BESITZ ZAGREB vorzunehmen.
Wir sind im Jahr 1998. Meine Mutter stellt wieder einen Antrag.
Sie hat seit rund 25 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft, als in Kroatien der Krieg ausbricht. In Kroatien und im Wohnzimmer meiner Eltern. Der Fernseher wird nicht mehr ausgeschaltet, auch nicht nachts, man muss jederzeit auf dem Laufenden sein. Die Wohnung meiner Eltern wird zum Außenlager der jugoslawischen Berichterstattung. Das Telefon steht nicht mehr still, alle ausgewanderten Freunde meiner Eltern melden sich bei uns, um mitzureden. Und es sind einige.
Meine Tante und meine Mutter können sich nicht einigen, wer brutaler und verbrecherischer in diesem Balkankrieg daherkommt, bis zu dem Tag, als der deutsche Außenminister Genscher vorauseilend den kroatischen Staat anerkennt. Plötzlich und einmalig sind sich die beiden Schwestern einig: Dieses Verbrecherland wird so ohne Weiteres anerkannt, in die EU gehoben! Die beiden Schwestern toben, dann sind sie sich mehr als einig: Der verlorene Besitz muss zurückgefordert werden, und zwar jetzt und sofort!
Meine Mutter holt sich Rückendeckung von einem befreundeten Staatsminister, dem diese Kroatiengeschichte auch nicht sonderlich schmeckt. Er vertritt sie als Anwalt. Ich halte ihren Briefwechsel in der Hand:
Am 4. 8. 1998 schreibt er ihr, dass die Kroaten Restitutionsansprüche nur von kroatischen Staatsbürgern geltend machen würden. Dass aber eine doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland nicht erlaubt sei. Mit einer befristeten Staatsbürgerschaft wäre es zwar möglich, aber das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz der BRD unterstelle den Personen dann, dass sie ausgewandert seien. Wenn auch nur befristet.
Meine Mutter fürchtet um ihre mühsam erworbene deutsche Staatsbürgerschaft. Sie will ihren rechtmäßigen Besitz zurück, was kann daran so kompliziert sein?
Der Anwalt schreibt an die deutsche Bundesregierung:
Als Staatsminister des Landes Hessen glaube ich, dass gerade im Falle von zwangsenteigneten jüdischen Mitbürgern ein überragendes öffentliches Interesse im Ergebnis anerkannt würde. Ich bitte die jeweiligen Ministerien um Mithilfe.
Diese wird ihm zugesichert.
Es passiert nichts.
Er wendet sich wiederholt an die kroatische Botschaft, die eine generelle Entscheidung ablehnt und jeden Einzelfall gesondert prüft. Entschieden wird nichts. Wieder wendet er sich an seine Regierung, die ihm mitteilt, der kroatische Staat werde unmittelbar nach dem Eintreten in die EU mit dem Aufarbeiten der Restitutionsanträge beginnen. Meine Mutter hat die Nase voll! Diese Form von Politik widert sie an, sie schreibt ihrem Anwalt, sie werde von ihren Ansprüchen zurücktreten.
»Tun Sie das nicht«, bittet sie der Staatsminister. »Nehmen Sie sich einen kroatischen Anwalt.«
Nach einer kurzen Verschnaufpause tut meine Mutter genau das: Sie nimmt sich eine kroatische Anwältin und prozessiert bis zu ihrem Tod erfolglos gegen den kroatischen Staat.
Ich weiß nicht, wie schwer diese Niederlagen meine Mutter getroffen haben.
Sie sprach selten von Zagreb, fast nie vom Lager. Ich finde ein mit Bleistift handbeschriebenes Blatt. Ein einziges Mal machte sie ihrer Enttäuschung Luft:
Was man so alles erlebt als »Ausländerin« und noch dazu als Frau. Das Alter spielt wohl auch eine Rolle bei diesen Un-Menschen. Sie mögen nur sich selbst und das, was sie machen. Eine Überheblichkeit, so tief verwurzelt, daß sie sich derer gar nicht bewußt sind. Der Maßstab ist wohl nur die Zugehörigkeit zu der Meute, die alles darf, der alles
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