Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Regisseur hat immer das Recht zu schneiden, aus welchen Gründen auch immer.«
»Nein, nein, ganz und gar nicht. Ihr wart prima. Im Gegenteil, ihr wart sehr überzeugend. Eure Szene war stark, sehr authentisch – vielleicht zu authentisch. Es war einfach zu viel. Ich habe befürchtet, ihr würdet zu hart wirken und man würde euch als Juden nicht mehr mögen.«
»Na ja, wir haben gerade den Holocaust überlebt, da ist man vielleicht ein bisschen hart«, antwortete ich vorsichtig.
»Eure ganze Szene war gut. Wirklich sehr gut, alle sagen das, die Produktion, der Redakteur … Aber weißt du: Ihr habt irgendwie die Stimmung verdorben. Die Stimmung des Films gestört, verstehst du?«
»Tja, wenn man dem Holocaust entkommen ist, kann die Stimmung schon mal auf dem Nullpunkt sein …«
Absurd. Wir waren dem deutschen Kino zu viel! Das hätten sie sich aber vor dem Holocaust überlegen müssen, dass es einem irgendwann zu viel damit werden konnte: die ganze Brutalität und so. Obwohl, bis jetzt waren wir kein schlechtes Geschäft gewesen – there is no business like shoahbusiness. Ganze Legionen von deutschen Schauspielern bezogen ihre Monatsgagen von ihren Drehs als Hitlerjungen, Offiziere, SS -Männer. Und war es nicht der große Traum eines jeden deutschen Darstellers, endlich einmal Hitler geben zu dürfen …?
Was war das für ein Film, in dem die Juden störten, die Stimmung verdarben? Der Holocaust als Stimmungskiller. Tja, unsere große Zeit im Kino war wohl vorbei, man brauchte uns Juden nicht mehr. Jetzt kam eine neue Zeit, die der guten Deutschen und der bombenwerfenden Terroristen. Wir hatten das geschichtliche Verfallsdatum überschritten. Wir waren out and over. Ab jetzt würden wir aus den Filmen herausgeschnitten. Auch aus schon bestehenden: »Schindlers Liste« judenfrei! Ich war gespannt, wie sie das hinbekommen wollten. Ich wünschte, ich könnte mich auch herausschneiden aus meiner Geschichte, einfach so: cut! Mir ging es ja nicht anders: Auch meine Stimmung wurde nicht sonderlich gehoben, wenn ich in der Geschichte meiner Vorfahren wühlte. Aber ich hatte keine Wahl. Die Überlebenden und ihre Kinder und Kindeskinder haben Wunden, die sich nicht herausschneiden lassen. Die Stimmung heben – tun sie auch nicht.
Am Ausgang des Kinos hole ich uns allen ein Eis. Meine aktuelle Stimmungslage ist eigentlich ganz gut. »Schade, Mama«, sagt der Kleine, »dass sie dich rausgeschnitten haben, der Film war gar nicht so schlecht.« – »Viel zu kitschig, völlig unpolitisch!«, meint David, der nicht in der Lage ist, sein Eis zu essen, ohne sich zu bekleckern. – »Die Musik taugt gar nichts«, grummelt Georg. »Seife. Traumschiff …«
Na gut, es war ein bisschen zu bunt, ein bisschen zu einfach gestrickt, aber sympathisch. Ich habe mich amüsiert. Wir hätten wirklich nur gestört.
Vor dem Kino stolpern wir über Raffi. »Was machst du denn hier?«, rufe ich. »Warst du etwa auch in dem Film? Sag nichts, ich kann mir denken, wie du den Streifen fandest.«
Ohne darauf einzugehen, bittet er uns in sein Stammcafé. Er ist blass, seine Augenringe sind tiefschwarz. Er nippt wie ein Vogel an seinem Cranberrysaft, und ich fürchte, er wird gleich losheulen. Mir wird selbst ganz flau. Nur Georgs westfälischer Teint ist rosig und gesund. Die Kinder bekommen Cola und die Gala. Raffi legt los.
»Es war wie im Bilderbuch, nein, wie in der Bibel. Das Hohe Buch der Liebe im Berliner Alltag, die Kastanienallee leuchtete unter unserem Glück. Wir sprachen, aßen, schliefen, alles miteinander. Gestern ist sie abgereist, eine Stunde vorher hat sie Schluss gemacht. Sie könne keine Fernbeziehung aushalten, hat sie gesagt. Das war’s.«
Das war’s? Ich komme nicht ganz mit. Ich rekapituliere. Richtig: Paris! Große Liebe, amerikanische Jüdin, die zu ihm nach Berlin zieht, damit die beiden einen gemeinsamen Alltag zustande bringen. Irgendwas scheint schiefgegangen zu sein. Raffi hat Tränen in den Augen. »Soll ich ihr vorschlagen Prag im spätherbstlichen Nebel? Ihr zeigen, wo ich herkomme. Wo sie herkommt?« Zärtlich streichelt er Sammy über den Kopf, der nur kurz von seinen Promigeschichten aufschaut.
Was für ein mutiger und poetischer Vorschlag! Einige Sekunden lang bin ich neidisch, lasse mir aber nichts anmerken. Der kleine europäische Jude führt die »große Schwester Amerika« zu ihren Wurzeln zurück. Ich sehe sie auf dem verwunschenen Jüdischen Friedhof in Prag Steine auf die Gräber ihrer
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