Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
sollen, denke ich, als meine Tante neben mir zu japsen beginnt. Sie holt Luft, zwei-, dreimal, verharrt dann mit gestreckten Armen in einer bizarren Stellung. Wieder ziehe ich am Nerz, doch ihre Arme sind steif, es bewegt sich nichts mehr.
Mein Nachbar, ein sympathischer schwuler Herr, rückt zur Seite, um Platz für meine vergeblichen Hilfeleistungen zu schaffen. Auf der Bühne ist es nun verdächtig still. Ist der Hauptdarsteller schon abgegangen? Ich will ihn nicht stören, aber das Gesicht und die Augen meiner Tante sind grau, hellgrau, der Mund ist weit aufgerissen – vielleicht ist sie tot. Wie soll ich, ohne zu stören, einen Krankenwagen hier hineinbekommen?
Ich muss etwas tun, Premiere hin oder her. Entschlossen erhebe ich mich aus der Mitte der zehnten Reihe und schleiche, so leise ich kann, hinaus. Alle müssen der Enge wegen aufstehen, um mich vorbeizulassen. Aber sie tun es zuvorkommend, verständnisvoll und relativ leise. Die Theater-Ärztin wird aus einem anderen Theater gerufen. Ich bitte sie, meine Tante zu retten – falls überhaupt noch etwas zu machen ist –, aber sie solle auf keinen Fall die Vorstellung beeinträchtigen. Daraufhin gibt sie mir eine Spritze und rennt in den Zuschauerraum. Die Frau des Intendanten eines benachbarten Theaters ist herausgekommen, eine Thomas-Bernhard-Spezialistin. Sie hält meinen Kopf und redet mir gut zu: Bei einer derart langweiligen Inszenierung wäre es das Beste, in Ohnmacht zu fallen, meint sie lakonisch.
Die Ärztin kehrt zurück und sagt: »Die Dame in Rot lebt.«
Ich schreie: »Meine Tante ist nicht in Rot, sondern im Nerz!«, und die Ärztin verschwindet wieder im Zuschauerraum.
Irgendwann schließlich hört man Applaus, meine Tante ist wieder bei Bewusstsein, sie kommt am Arm des freundlichen Sitznachbarn aus der Vorstellung.
»Das Bonbon, das du mir gegeben hast, war schuld!«, bemerkt sie knapp. »Und die Aufführung war auch nichts Besonderes …«
Ich werde von der Intendanz und den Kollegen zurechtgewiesen: Sich auf einer Premiere so unkollegial zu verhalten, sei mehr als ein Fauxpas. Der Hauptdarsteller tobt.
Die Kritiken schreiben von einem öden Abend, an dem in der zehnten Reihe eine Dame sogar eingeschlafen sei. Ich werde krank, meine Tante bekocht mich mit Hühnersuppe. Im Fieber denke ich nach: über Pausen und Stille und die tiefe, tiefe Wahrheit. Und dass ich sie nicht wirklich verstehe, nicht einmal annähernd. Von Wagner ganz zu schweigen.
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ein satz in südafrika
»Wir gehen ins Kino, und zwar alle!« Meine Stimme klingt nach Morgenappell. Wenn man zwei Söhne hat, ist das nicht zu vermeiden. »Einmal im Monat kann man wirklich mal was zusammen machen. Nein, Sammy, der Film ist nicht erst ab sechzehn. David, es ist mir egal, ob du keine Lust hast, ich habe in dem Film mitgespielt, und damit basta! Nein, Georg, er läuft nur in Mitte. Können wir jetzt los? Daaavid, wir warten!«
»Warum soll ich mir einen Film anschauen, aus dem du rausgeschnitten wurdest. He?« Wenn er will, kann David sehr scharfsinnig sein …
Eine große deutsche Produktionsfirma hatte sich das Leben einer ebenso großen deutschen Schauspielerin und Sängerin vorgenommen, um daraus einen großen Kinofilm zu machen. Die Chansonnette hatte sich Ende der 40er-Jahre in einen amerikanischen Juden verliebt, der sie mit zu seinen Eltern nach L. A. nahm, um ihnen seine große Liebe vorzustellen. Die Eltern waren vor den Nazis aus Deutschland geflohen, nur knapp der Vernichtung entkommen. Der Besuch wird ein Desaster: Die Eltern werfen die große Sängerin und Liebe ihres Sohnes als deutsche Arierin kurzerhand aus dem Haus. Ich sollte die Mutter spielen.
»Ich fahre nicht für einen Drehtag nach Südafrika. Ist doch absurd. Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Arbeit. Außerdem bin ich krank«, erklärte ich damals aufgebracht meiner Agentin.
»Sie können sich niemand anderen vorstellen«, antwortete sie ruhig.
»Aber bitte, jeder ist ersetzbar, sogar ich.«
Ausführlich schilderte mir meine Agentin, dass die Produktion sich mein gesamtes »jüdisches Œuvre« angesehen habe. Ich solle die jüdische Mutter spielen und niemand sonst.
»Mein jüdisches Œuvre, dass ich nicht lache! Erinnere dich bitte ans letzte Mal!«
Ich sollte eine Jüdin spielen, die aus Theresienstadt entlassen wird. Dafür sollten mir die Haare abrasiert werden.
Eine schlaflose Nacht, dann sagte ich den Film ab:
Es geht nicht, erkläre ich dem
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