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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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den Feuerwehrball, die Melone, für das Land, wo Milch und Honig fließen. Verlässt die Relativitätstheorie, den Penisneid für die Hatikwa. Beginnt ein neues Kapitel seiner Geschichtsschreibung – geschichtsfrei, geschichtslos. Denn das kannman sein in Israel. Dort bieten sie einem einen Neuanfang, heißt es immer in den glänzenden Annoncen des Gemeindeblattes. Aber gibt es einen selbst überhaupt ohne Geschichte? Wie frühstückt ein geschichtsloser Mensch? Kann er überhaupt sein Ei köpfen oder hat er auch das vergessen? Alles verlassen, alles vergessen! Geht denn das, »alles hinter sich lassen«? Mein Kopf wird schwer. Ich merke, ich komme in einen Bereich, wo die metaphysische Luft extrem dünn wird. Was für eine Verlockung. Milch und Honig … Zu dumm nur, dass mir von Milch immer übel wird und der Honig zwischen den Fingern kleben bleibt. Zu dumm.
    Auch die Jeans, die ich mir im Schuppen um die Ecke mühsam überziehe, steht mir überhaupt nicht. Raffi hat nicht recht. Es gibt nicht für jeden die passende Jeans. Für mich jedenfalls gibt es keine, so viel ist klar. Das 20-jährige Girl an der Kasse schaut mir mitleidig hinterher. Hierher komme ich nie wieder, schwöre ich mir.
    Es ist dunkel, als ich nach Hause fahre, aber es hat aufgehört zu regnen – immerhin –, so übel ist Berlin doch gar nicht.
    Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich dem wahren Abenteuer zu widmen: dem Alltag. Tag für Tag schleppe ich mich auf den Markt, kaufe tapfer den deutschen Bodenapfel, erziehe die Kinder. Aber Alltag ist auch keine Alternative.
    »Mama, willst du dir nicht mal ein Kochbuch kaufen? Im ›Austria‹ schmeckt das Schnitzel irgendwie anders«, mäkelt Sammy.
    »Halt das Messer richtig und iss auf!«
    Ich weiß auch nicht. Die Panade, die aufs Schnitzel gehört, klebt an der Pfanne, das Fleisch ist hart – warum das alles?
    »David, wie lange sind deine feuchten Sportklamotten schon in der Tasche? Die ganze Wohnung stinkt nach Biotop!« Mein ältester Sohn ist inzwischen fast unbemerkt 12geworden. Seine Stimme krächzt, seine Hosen hängen in den Kniekehlen. Er hat in einem Ferienlager israelische Tänze gelernt und erklärt mir großkotzig Ben Gurions Kriegsstrategien; über kurz oder lang wird auch er an der Strandpromenade Milch und Honig schlürfen. Dafür spezialisiert sich der Kleine auf Kirchen, rennt in jede offene Kathedrale, erinnert mich an Kardinal Lustiger, Star der Übergetretenen. Ich habe sie zu lange außer Acht gelassen, so viel ist klar. Nun gut, sie gehen in jüdische Schulen, sind als Erste informiert, wer wem im Nahen Osten gerade unrecht zugefügt hat. Aber wann haben wir das letzte Mal einen Sabbat zusammen gefeiert? Außer an den hohen Feiertagen zwinge ich sie höchstens einmal im Monat am Freitagabend in die Synagoge. Sammy kommt nur mit, weil er eine Riesentafel Milka-Schokolade vom Gabbai, dem Synagogendiener, bekommt. David, weil wir im Anschluss beim Chinesen abendessen und er dort alle anderen Juden treffen kann.
    Ich habe mit dem Judentum zu spät angefangen!
    »Bin ich eine schlechte Mutter oder nur eine schlechte Jüdin?«, frage ich am Abend meinen Mann. »Das Judentum wird über die Mutter weitergegeben, ist das nicht jüdische Mütterlichkeit genug?«, antworte ich mir vorauseilend selbst. Georg grinst und hält sich klugerweise raus. Er erträgt den Gottesdienst nur schwer. Der Gesang des Kantors, die Reden des Rabbiners gefallen ihm. Aber warum alle Gemeindemitglieder während des Gottesdienstes gleichzeitig reden müssen, kann er nicht nachvollziehen. Schweigen scheint keine jüdische Stärke zu sein.
    Georg spricht generell wenig. Als sei Reden unanständig. In Westfalen haben sie wohl Kommunikation mit Prostitution verwechselt. Momentan ist er noch stiller als gewöhnlich. Vor einiger Zeit ist sein Vater gestorben. Auch bei den Deutschen wird gestorben. Ein freundlicher Mann mit einem schweren Oberkörper, in dem noch eine Kugel aus Norwegensteckte, 1943. Jedes Mal, wenn er mich sah, drückte ihn der Einschuss, und er gab kleine scherzhafte Kriegsepisoden zum Besten. Ich mochte ihn. Er war klug, belesen, und er schämte sich. Er holte sich auf einer Kreuzfahrt in Norwegen eine Lungenentzündung und starb wenige Wochen später daran. Und da soll mir noch einer sagen, es gebe keinen Gott.
    Seine Frau blieb allein mit dem roten Backsteinhaus und den Rabatten im Garten. Über dem Klavier hängt ein Porträt von ihr aus den 30er-Jahren. Ein hübsches BDM -Mädchen

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