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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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Ahnen legen, durch die Galerien streifen, Palatschinken essen. Sie wird ihre Großeltern verstehen, und dass es ein Leben vor Amerika gab. Ihre Liebe zu ihm wird niemals aufhören.
    »Wo liegt eigentlich Prag?«, fragt Sammy. »Können wir mitfahren?« Der Vorschlag wird einstimmig angenommen.
    »Ich finde, wir können jetzt endlich nach Hause«, nölt David, dem jede romantische Ader fehlt.
    Eine Woche später erhalte ich eine SMS : »Fliege heute zu ihr nach L. A. Sie wollte nicht mit nach Prag kommen. Habe mir bis April freigenommen. Bitte gieß meine Blumen. Dein Raffi.«
    Vier Tage später ist Raffi zurück in Berlin. Er ruft mich an.
    »Es ist aus, aber in Ordnung so, ehrlich. Eine wunderbare Frau. Aber beziehungsunfähig. Lebt koscher und weiß nichts vom Judentum. Nichts von Europa. Nichts. Amerika hat sie kaputtgemacht. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten geht schlecht mit seinen jüdischen Kindern um. Sie wissen nichts …« Er klingt feierlich und abgeklärt. Er ist um den Globus geflogen, um jüdische Kinder zu zeugen. Nun sitzt er wieder in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg, im so gehassten, geliebten Deutschland und telefoniert.
    »Europa ist gar nicht so verkehrt«, sind seine letzten Worte. Dann legt er hastig auf. Er erwartet Besuch, Damenbesuch.
    Ich bin Sieger nach Punkten. Keine seiner jüdischen Liebschaften hat bislang gehalten, geschweige denn ihn glücklich gemacht. Aber mein Sieg fühlt sich schal an.

[Menü]
    milch und honig
    Ich treffe Raffi auf der Rosenthaler Straße wieder. Er wirkt gehetzt. Es ist fünf Uhr und stockfinster. Ich hätte ihn um ein Haar nicht erkannt. Wir haben uns einige Wochen nicht gesehen und uns etwas auseinandergelebt. Da er gleichzeitig alle beleidigt und allen gefallen will, hat er einen vollen Terminkalender. Ich bin inzwischen in mehreren deutschen Städten mit dem Vorbereiten von Inszenierungen beschäftigt gewesen. Meist Operetten. Ein aussterbendes Genre, das Tempo und Humor erfordert und einen dennoch nicht ins Feuilleton bringt. Tja, wenn die Juden noch leben würden … Das sage ich natürlich nicht, sondern starre Raffi an, der mich anstarrt.
    Was unsere Abmachung betrifft, passiert gerade auch nichts Neues. »Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr …« habe ich beim letzten Mal am Telefon zu Raffi gesagt, er hat pikiert aufgelegt.
    Nun sind wir ineinandergerannt und müssen etwas sagen. »Wie geht’s?«, fange ich an und bereue es sofort. »Wie soll’s gehen?«, ist die Antwort. Dann eine Pause. Mir tropft der Regen in den Nacken, Raffi hat einen Schirm. »Ich werde gehen«, sagt er, ich sage: »Na klar!« »Nein«, insistiert er, »ich wandere aus – für immer! Nach Israel, nächsten Monat. Dort werde ich glücklich sein. Das weiß ich!« Er sagt das so bitter, als zöge er an die Front und nicht ins »Hotel Ramada« nach Tel Aviv.
    »Schon allein das Gefühl des Glücks wird mich glücklich machen, verstehst du? Ich werde dort die wirklich wichtigen Berichte machen können. Nicht so fadenscheinige Berichte aus dem jüdischen Abseits wie hier!«
    Ich nicke, obwohl ich nicht ganz sicher bin mit dem »Glücklichsein« und so. Er muss übertreiben, das ist klar, sonst bringt er nicht einmal den Mut auf, zum Flughafen zu fahren.
    Ich denke an Tel Aviv, an den Busbahnhof, und dass es dort wahrscheinlich nicht leiser geworden ist. Aber klar – kein Grund, nicht auszuwandern. Ich schäme mich ein bisschen – aber ich bin auch erleichtert. Raffi geht. Mit ihm gehen die melancholischen Mittagessen, aber auch sein vorwurfsvoll beleidigtes Gesicht. Ich werde wieder frei sein zu glauben, dass nicht 80 % der Deutschen Antisemiten sind, sondern einfach nur …
    »Ignorant sind sie alle«, sagt Raffi. »In einem Land, in dem 80 % der Menschen Antisemiten sind, hat es keinen Sinn«, murmelt er und ich nicke beflissen.
    »Wann, ehm, wann genau geht’s denn los?«, frage ich. »Bald«, sagt er, lächelt mir zu, küsst mich ausgesprochen flüchtig und verschwindet mitsamt Schirm in der Menge.
    Im Starbucks finde ich noch einen Platz am Fenster. Natürlich geht man nicht zu Starbucks, aber nach so einem Schock würde ich sogar im Führerhauptquartier einen Espresso bestellen. Ich bin nass bis auf die Haut, rieche nach feuchtem Pudel und die Wimperntusche klebt auf meinen Wangen. Als hätte ich geweint. Ich beneide ihn. Was ist schon eine alte Welt gegen eine neue? Er, der Tscheche, verwandt mit Kafka, Miloš Forman und Pan Tau gibt den Käfer auf,

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