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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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mit flachsblonden Zöpfen. Manchmal versuche ich herauszufinden, ob sie unter Einsamkeit leidet. Sie redet in einem fort, singt, kichert beherzt dazwischen, und ich fürchte, dass eher ihre Zuhörer verrückt zu werden drohen als sie selbst.
    »Deine Mutter singt, völlig unmotiviert, merkst du das«, frage ich meinen Mann häufiger. Ihm ist es bisher nicht störend aufgefallen. Sie hat fünf Kinder zur Welt gebracht und mit eisernem Willen erzogen. Zu den jährlichen Familientreffen in Westfalen fehle ich meistens. Ich habe Premieren, einen wichtigen Drehtermin, eine Nierenbeckenentzündung … »Deine Tante wohnt monatelang bei uns und du kommst nicht mal mit zum Achtzigsten von Mutti!«, durfte ich mir schon anhören. Warum wohl? Aber er hat recht.
    Wenn mir die Ausreden ausgehen, muss ich mit. Vollkommen naiv plappert sie dann aus ihrer Jugend als Lehrerstochter.
    »Da gab es plötzlich so viel Platz in den Schwimmbädern, den Juden war es doch jetzt verboten zu baden, uns aber nicht …«
    Ihre Erzählungen sind völlig wertfrei: »Mein Vater ist nie in die Partei eingetreten – sondern war sehr musikalisch …« So war das eben. Manchmal spüle ich, während sie redet. Manchmal dreht es mir den Magen um. Ich mag sie irgendwie, aber ist so viel Naivität möglich?
    Ich habe mich nie bemüht, ein Treffen zwischen unserenFamilien zu organisieren. Meine Fantasie genügte völlig, um es mir in den grellsten Farben auszumalen: Wehrmachtssoldat trifft auf Kommunistin, BDM -Mädchen auf Partisan … Nein. Solange alle lebten, taten wir einfach so, als gebe es die jeweils anderen Eltern nicht. Als seien alle tot. Irgendwann würden sie sowieso sterben. Nach dem Tod ihres Mannes folgte sie unserer Einladung und kam nach Berlin. Die Kinder und mein Mann freuten sich – sie sich auch. Es wurde eine Katastrophe. Alles, was ihr nicht schmeckte, kam von unten »aus dem Süden«. Wobei der Süden kurz nach Tirol begann. »Euereins ist eben von Geburt aus nervös«, erklärte sie mir, als ich nach und nach begann, die Fassung zu verlieren. Schon bald weigerte ich mich, auch nur einen einzigen deutschen Eintopf zu mir zu nehmen, den sie für uns kochte. Erklärte, dass Eintopf faschistisch sei, und trat in den Hungerstreik. Ich erlebte mich von einer völlig neuen Seite.
    Das Ganze ging sieben Tage lang, dann fuhr sie zurück nach Hause, nach Westfalen. Mein Mann, ihr Sohn, schwieg. Was blieb ihm auch übrig zwischen Mutterkreuz und Jewish princess? Er verschanzte sich in seinem Tonstudio und tagelang war außer Bachs wohltemperiertem Klavier nichts mehr von ihm zu hören.
    »Mama, es sind nur noch zwei Tage bis Chanukka«, weckt mich Sammy am nächsten Morgen. Er steht im Schlafanzug vor meinem Bett. »Ich wünsche mir einen neuen Hockeyschläger für die Halle, einen gestreiften Mundschutz, und David will die Sopranos haben. Alle Folgen.«
    Chanukka? Noch zwei Tage bis zu Chanukka! Warum hat mir das keiner früher gesagt? Fest der Lichter, der Freude, der Geschenke! Geschenke sind nicht obligatorisch, aber im assimilierten deutschen Judentum ist man, um den Kindern eine Freude zu machen, dazu übergegangen. Da Chanukka und Weihnachten fast zeitgleich im Dezember stattfinden,will man in der christlichen Umgebung nicht auffallen, und so hat sich in Deutschland der Brauch durchgesetzt, für die Kinder kleine Chanukkakalender zu basteln, für jeden Tag ein Geschenk. Bei acht Tagen und zwei Kindern 16 Geschenke. Wir haben noch zwei Tage bis zum Festbeginn, mir fehlen noch 14 Geschenke.
    »Mama, David will doch nicht die Sopranos , sondern alle Staffeln von 24«, brüllt es jetzt aus dem Flur.
    Ich muss sofort in die Stadt, einkaufen!
    Beim Rausgehen öffne ich dummerweise den Briefkasten: Ein Brief aus Israel, an meine Eltern adressiert, hat eine Odyssee hinter sich und ist bei mir gestrandet. Es ist eine Einladung von den nach Israel ausgewanderten Partisanen und endet mit den Worten: »Liebe Thea, lieber Jakob, unser sechzigjähriges Jubiläum wird wahrscheinlich unser letztes sein. Wir sind nicht mehr viele, bitte kommt!«
    Es hat keinen Sinn, ihnen zu sagen, dass meine Eltern tot sind und nicht kommen können. Sie wollen es nicht wahrhaben. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als selbst an ihrer Stelle zu fahren. Ich könnte auch Raffi besuchen … Falls er schon ausgewandert ist. Ich verspreche den Kindern, nur drei Tage zu bleiben und herrliche Chanukkageschenke aus dem Heiligen Land mitzubringen.
    Mein Verhältnis zu
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