Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
können die Proben fortgesetzt werden. Ich bin beeindruckt von diesen Berichten und gespannt auf die Premiere. Meine Tante ist seit den hohen Feiertagen bei uns. Sie hat sich, schon schwach vom Jom-Kippur-Fasten, nach der Synagoge erkältet und friert immerzu. Zur Premiere trägtsie ein neues Kaschmir-Twinset, eine Merino-Strickjacke und darüber ihren Nerz. Man rät ihr an der Garderobe, den Nerz abzugeben. Aber der Blick meiner Tante verbietet jedes weitere Insistieren. Einzig ihre Pelzmütze nimmt sie ab und hält sie stolz auf ihrem Schoß. Wir sitzen in der zehnten Reihe Mitte. Die Premiere ist ausverkauft, die Luft im Raum nach kurzer Zeit sehr stickig. Alle sind da, ich grüße nach rechts und links. Kollegen, Intendanten anderer Theater, mitunter auch ein wenig zahlendes Publikum. Es riecht nach Parfüm und Bühnenarbeitern. Das Theater ist frisch renoviert, aber die Sitze sind eng und ungemütlich geblieben.
»Deutschland hat eine florierende Theaterlandschaft.« Ich bemühe mich, meiner Tante etwas Feuilleton zu bieten, derweil sie versucht, es sich auf dem Sitz doch irgendwie bequem zu machen. »Der Drang der Deutschen nach Höherem ist bekannt … Streckenweise habe ich Mühe, ihrer militanten Wahrheitssuche zu folgen, aber …« Meine Tante lächelt mir freundlich zu, ohne mir im Geringsten zuzuhören.
Die Akkordeonisten setzen mit dem Forellenquintett ein. Sagenhaft, was Musiker mit ihren Instrumenten alles anstellen! Das Stück beginnt, eine junge Frau fällt immerzu in Ohnmacht, während der Hauptdarsteller dazu spricht.
Er hält offensichtlich brillante Monologe, denen ich nicht ganz folgen kann – aber der Duktus ist erhaben. Ich begreife, dass es ums Zirkusleben geht, das erkennt man an den Kostümen. Immer wieder gibt es Pausen im Dialog, in denen die Musiker nach vorne zum Publikum gedreht werden, um zu spielen.
Vor einiger Zeit bin ich genau an diesen Pausen gescheitert. Es ging um ein ganz anderes Stück, in dem immer wieder unerbittlich Pausen und Stille zwischen den Sätzen gefordert wurden. Diese Momente der Stille machten mir Schwierigkeiten. Sie hielten nicht nur die Zeit an, sondern legten tiefere Bedeutung nahe, sorgten für große Gefühle, für wahre Momente. Ich nahm sie schrecklich ernst, ohne sie wirklich zu begreifen, geschweige denn füllen zu können, und der Abend schleppte sich dahin wie eine parlamentarische Sitzung. Ich ahnte, dass ich hier an einen überaus wunden Punkt der deutsch-jüdischen Geschichte rührte: Die »jüdische Hast« hielt mich gefangen. Ich war nicht fähig zu diesen Momenten der Stille. Wenn ich sie aber nicht aushalten konnte, gab es für mich offenbar auch keine Tiefe, keine Bedeutung, keine Wahrheit, keine Erlösung. Nichts. Ich war verloren und würde den Gral niemals finden, Wagner würde mir auf ewig verschlossen bleiben.
Damals endete meine Theaterarbeit mit einer aufgebrachten Intendantin, die mich schüttelte und fragte, was los sei: Alles sei so fürchterlich langsam und langweilig. Dafür hätte sie mich nicht engagiert. Ich war ratlos, dabei hatte ich doch nur endlich auch mal Pausen machen wollen, Stille walten lassen. Ruhe und Tiefe finden. Ich hatte alles richtig machen wollen.
Nein, ich hatte viel mehr gewollt: Ich hatte in die Abgründe der deutschen Seele eintauchen wollen, mitschweben im Luftreich ihrer Metaphysik, Wagner lieben, einmal so sein wie sie.
Ich kehrte zu mir und meinem Tempo zurück. Die Aufführung dauerte die Hälfte der ursprünglichen Zeit. Sicher, der Theaterabend war nun vital und spannend, aber die wirkliche Wahrheit, die Pausen, die bedeutsame Stille waren mir verschlossen geblieben. Der Gral. Ich würde ihn nie finden. Ich dachte an die »Herrenmenschen« und das auserwählte Volk und wusste tief innen: Wir hatten nichts gemeinsam.
Inzwischen sind fast vierzig Minuten vergangen. Der Hauptdarsteller spricht, die junge Frau fällt weiterhin in Ohnmacht, und es ist entsetzlich warm. Ich versuche, meiner Tante aus ihrem Nerz zu helfen. Aber feste Gummis um die Handgelenke machen ein unauffälliges Herausschlüpfen, ohne aufzustehen, unmöglich. Ich weiß: Der Hauptdarsteller duldet keine Unruhe im Raum, er wird ohne zu zögern abgehen – und das bei einer Premiere. Also lasse ich vom Mantel ab und gebe der Tante ein Bonbon, um sie wenigstens von ihrem Hustenreiz zu befreien. Wieder fällt das Mädchen im Zirkusrock auf der Bühne um, mir ist nicht ganz klar, warum. Ich hätte das Stück zu Hause lesen
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