Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
überraschtunsere Vergangenheit in den Händen. Das Paket kommt aus Zagreb und enthält den gesamten Anwaltsverkehr zwischen meiner Mutter und den kroatischen Behörden. Ich habe in den letzten Wochen auf Erledigung der Angelegenheit gedrängt, das haben sie anscheinend zum Anlass genommen, den ganzen Fall einfach abzuschließen. Die Jewish Claims Conference hatte mich schon vorbereitet. Sie hat recht behalten: Es bestehe zwischen Deutschland und Kroatien kein Staatsvertrag, der die Kroaten dazu verpflichten würde, die geraubten, angeeigneten Besitztümer an in Deutschland lebende Juden zurückzugeben. Keine Restitution »whatsoever«. Im beigefügten Schreiben heißt es lakonisch: »Das Wohngebäude und die Fabrik mitsamt Gelände bleiben bis auf Weiteres Eigentum des kroatischen Staates.« Ich koche vor Wut.
Mit dieser Verweigerung leugnet der kroatische Staat jegliche Mitschuld. Es hat Hitler gegeben, den Krieg und auch den ein oder anderen Ustascha. Das ist schwer zu leugnen, hat aber mit dem jetzigen kroatischen Staat, mit der Gegenwart nichts zu tun. Das ist Geschichte. Jedenfalls für sie.
Sie haben sich den Besitz illegal angeeignet – uns aber bleibt keine Handhabe, an ihn heranzukommen! In einem kleinen Passus des Staatsvertrages wurde vermerkt: Sollte Kroatien in die EU aufgenommen werden, sei die Sache neu zu verhandeln. Ergebnis offen.
Das würde ihnen so passen! Alle Überlebenden wären dann gestorben, ihre Angehörigen weit fort – und der Staat Kroatien säße wie die Made im fremden Speck auf seinem unrechtmäßigen Besitz.
Mir fehlen die zwei Gebäude in Zagreb nicht, weder aus sentimentalen noch aus finanziellen Gründen. Ihr Zustand ist verheerend, es wäre vielleicht besser, sie ein für alle Mal zu vergessen. Ich kann sie aber nicht vergessen. Sie warten stoisch, die Kroaten, sie warten, bis ich tot bin. Das Haus wirdder kroatischen Staatsbank überschrieben, alles ist geregelt und vergessen! Mein Wille zum kroatischen Nahkampf steigt merklich. Mal sehen, wer den längeren Atem hat! Ich werde den kroatischen Staat verklagen, auch wenn es Jahre dauern, ein Präzedenzfall werden wird. Stoisch und unerbittlich werde ich die Klage durchkämpfen. Ich, die Partisanentochter, muss in den Widerstand. Worauf warte ich noch? Es klingelt! Sehr gut. »FASCHISTEN !«, brülle ich in den Hörer.
Raffi ist am Telefon.
»Merkst du das jetzt erst?« Raffi in Plauderlaune, das hat mir gerade noch gefehlt. »Wie geht’s?« Raffis Stimme klingt betont freundlich, was nichts Gutes verheißt. Ich weiß sofort, er will etwas von mir.
»Gut, prima.«
»Was machst du?«, singt er seelenruhig weiter.
»Nichts Besonderes, ich bastle eine Bombe, mit der ich den gesamten Balkan in die Luft sprenge.«
»Wenn’s weiter nichts ist … Ich habe da vorher nur noch eine Frage …«
»Raffi, was willst du? Ich habe zu tun!«
»Wenn du keine Zeit hast, bitte, ich will dich nicht stören.«
»Nein, ist ja gut, was ist los?«
Ich höre ihn atmen: »Du lädst mich doch ein zu Davids Bar-Mizwa, nicht wahr? Mir ist es völlig gleich, aber für meine Tochter ist es wichtig, sie bekommt so wenig Jüdischkeit in ihrer Umgebung, verstehst du?«
»Natürlich wirst du eingeladen! Was ist das für eine Frage. Abgesehen davon, dass du mein Freund bist, bist du einer der zehn Juden, die ich kenne. Da darf praktisch keiner fehlen. Ich bin gerade dabei, die Einladungen einzutüten. Sobald ich Kroatien gesprengt habe, klebe ich die Briefmarken drauf.«
Schön wär’s, wir haben noch nicht einmal mit dem Entwurf der Einladungen angefangen.
Vor genau einem Jahr hat der Rabbiner unserer Synagoge feierlich den Termin für Davids Bar-Mizwa festgesetzt. David hat fast zeitgleich mit dem Unterricht seiner Parascha begonnen, dem Gebetsabschnitt, den er allein, laut und vor allem auf Hebräisch in der Synagoge vortragen muss. Danach wird er ein vollgültiges Mitglied der Jüdischen Gemeinschaft sein und in Dubai oder Armenien Minjan halten können. Seit einem Jahr geht er jeden Montag zu seinem Bar-Mizwa-Unterricht und kopiert das Timbre seines Kantors, eines hochgewachsenen jungen Argentiniers mit einem dunklen Bariton. Sie diskutieren den Sinn jeder Bracha, was Gott damit wohl gemeint haben könnte … Es scheint ihnen Spaß zu machen.
Vor nicht allzu langer Zeit ist der amtierende Rabbiner mit Schimpf und Schande seines Amtes enthoben worden. Er hatte sich am Geschäft mit koscheren Lebensmitteln privat bereichert,
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