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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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zu legen, ist zu diesem Zeitpunkt am größten. Doch da erst am Schluss des Rituals die schönsten Lieder kommen, singen und beten wir tapfer weiter, während die Kinder in der ganzen Wohnung lauthals den Afikoman suchen. Wir haben dem Eliahu Ha-Navi Wein eingegossen, uns zur Tür gewendet und ihn gebeten, doch recht bald zu kommen, schließlich warten wir schon 5760 Jahre auf ihn. 5760 Jahre! Mangelndes Durchhaltevermögen kann man uns wahrlich nicht nachsagen. Und wir haben uns gegenseitig versprochen: »Nächstes Jahr, ja, nächstes Jahr in Jerusalem! Ganz bestimmt werden wir uns dort alle treffen! Dieses Jahr noch hier, nächstes Jahr im Gelobten Land. In der Freiheit, da, wo wir hingehören! Ja, Ja!«
    »Jaaaahh!!!« Ein Schrei geht durch die ganze Wohnung! Die Kinder haben das Stückchen Mazze gefunden. Sofort beginnt eine brutale Schlägerei im Flur, an deren Ende erst die geerbte Porzellanschüssel zerbricht, dann die übergetretene Ex indigniert die Wohnung verlässt. Ich beginne langsam zu bereuen, dass ich mich zur Ausrichtung des Festes bereit erklärt habe. Nächstes Jahr in Jerusalem, meinetwegen, nur nicht wieder bei mir! Raffi versucht währenddessen, die stille Schöne zu küssen, das Baby schreit sofort los, die stille Schöne lacht, die Israelin hat sich im Bad eingeschlossen. Georg bringt seelenruhig die Kinder ins Bett, während Aron den beiden Nichtjuden die Notwendigkeit der 10 Plagen ausführlich erläutert. Und ich, die ich alles so brav organisiert habe, ich Unverwüstliche, fange an zu weinen. Es bricht aus mir heraus. Alles, was sich im Laufe der letzten Zeit angesammelt hat. Die Trauer um die Eltern, um den Vielleicht-Bruder, das Gezerre um das Testament, die rauchende Rote vom Friedhofin Zagreb, die Kroaten und die Restitutionsansprüche, der Holocaust und der Prophet.
    »Der Prophet! Glaubt ihr wirklich, er wird noch kommen? Wieso ist er nicht schon längst da? Er ist in Miami, in Odessa oder sonst wo und kümmert sich einen Dreck um sein Volk! Sein auserwähltes. Wie sich nie jemand um uns kümmert, nie, nie, nie!« Ich sitze am Tisch, heule und trinke in großen Schlucken das Glas mit dem schrecklich süßen koscheren Wein des Propheten leer. In Notsituationen ist Raffi bekanntlich unbezahlbar. Aus seinem Boss-Jackett nimmt er einen silbernen Flachmann, reicht mir den Wodka. »Trink das. Ist garantiert koscher und wirkt sofort. Du nimmst den Propheten, fürchte ich, zu konkret, zu wörtlich. Vielleicht gibt es ihn. Vielleicht ist er in den USA . Vielleicht unter uns. Wahrscheinlich aber gibt es ihn gar nicht. Der Prophet ist sicher wesentlich für unsere Religion. Ob er noch kommt und wann, beschäftigt ganze chassidische Zirkel. Aber für den Seder heute Abend würde ich vorschlagen: Er kommt nicht. Wir nehmen einfach das Dessert.« Spricht’s und wendet sich dem schreienden Baby zu.
    Als ich den Tisch abdecke nach diesem einmaligen Sederfest, ist es schon fast zwei Uhr. Ich setzte mich und esse das Mazzestück, den Afikoman, langsam auf.
    Manchmal wäre ich lieber das erlöste, nicht das auserwählte Volk.

[Menü]
    bar jeder mizwa
    Noch acht Wochen bis zu Davids Bar-Mizwa. Keine große Sache. Sechs Stunden Synagoge, anschließend Kiddusch für die versammelte Gemeinde. Abends zweihundert geladene Gäste, koscheres Büfett, sechsköpfige Band, Rede des Rabbiners und überhaupt: viele Tränen. Ich könnte mich tot stellen, behaupten, wir wären alle gestorben, urplötzlich an Malaria erkrankt, ausgewandert ans Kap der Guten Hoffnung, vor zwei Wochen übergetreten zu Papst Benedikt. Die Beschneidung war doch erst gestern, so kommt es mir zumindest vor. Sie war vor dreizehn Jahren. Nun gut, alle dreizehn Jahre ein großes Fest, das muss doch möglich sein. Ich schreibe auf unendlich viele Zettel, was zu tun ist. Es ist so viel, dass ich gar nicht erst anfange. Wenn ich mir jetzt ein Zeugnis ausstellen müsste, würde es in etwa so lauten:
    »Frau Altaras hat in den letzten Jahren mehrere Beerdigungen unter schwersten Bedingungen erfolgreich absolviert. Sie hat Ausdauer und Widerstandsfähigkeit bei der Verarbeitung nachgelassenen Mülls unter Beweis gestellt. Sie ist nun befähigt, auch komplizierteste jüdische Zeremonien in Angriff zu nehmen.«
    Mein Leben hat sich verändert, aber nicht wesentlich verbessert.
    Es klingelt, der Postbote drückt mir ein Paket in die Hand. Eine eingeschriebene Sendung. Er verabschiedet sich schwitzend, Bar-Mizwa-Zubehör? Stattdessen halte ich
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