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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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Sederabend sehr wörtlich genommen und in biblischer Größe gleich vier Frauen mitgebracht: erstens seine aktuelle Geliebte, eine neue Israelin, wunderschön und ebenso kompliziert. Zweitens seine Ex, die Mutter seiner Tochter, eine Übergetretene. Sie stammt aus der Zeit, als er noch mit Nichtjüdinnen anbändelte … Drittens eine sehr junge, ebenfalls sehr schöne und stille Frau miteinem Baby, die er zurzeit hofiert. Dazu seine Tochter. Ich habe zwei Nichtjuden eingeladen und Davids jüdischen Patenonkel Aron. Wir sind zu dreizehnt, der vierzehnte Platz ist für den Propheten Eliahu Ha-Navi reserviert.
    Die ersten zwei Stunden der Gebete haben wir hinter uns und sind noch immer nicht aus Ägypten herausgekommen. Drehen und wenden Vers um Vers, die Bedeutung der Begriffe Sklaverei und Freiheit, zu jeder Erklärung gibt es eine geistreiche Alternative. Raffi versteift sich auf die These, die Juden seien in Ägypten gar keine Sklaven, sondern ganz normale Gastarbeiter gewesen. Es ist nicht leicht. Die übergetretene Ex kennt sich aus. Leider. Unter ihrer Kontrolle werden ausnahmslos alle Verse gesungen, kein Gebet abgekürzt, kein Ritual ausgelassen. Wenn es nach ihr ginge, wären wir wahrscheinlich noch immer in Ägypten und der Auszug hätte statt langer 40 Jahre noch längere 8000 Jahre gedauert: Armes Volk Israel!
    Sie ist aus Liebe zu Raffi übergetreten, ist für den Unterricht über ein Jahr regelmäßig nach New York zu einem orthodoxen Rabbiner geflogen. Kaum hatte sie die Prüfung unter schwerstem rabbinischem Diktat bestanden, hat Raffi sie verlassen. »Mit einer Übergetretenen? Niemals!«, sagte er. Nun rächt sie sich und lässt uns für unsere Religion bluten.
    Ich denke mir, das Meer wird sich schon rechtzeitig vor uns teilen und sie hinter uns verschlucken.
    Die Kinder und mein Mann Georg sind heimlich im Arbeitszimmer verschwunden und schauen den UEFA -Pokal, die Israelin telefoniert laut und aufgebracht mit Tel Aviv, und die stille Schöne wickelt das Baby auf dem Wohnzimmerteppich, während Raffi ihr versonnen die Feuchttücher reicht.
    Aron, Davids Patenonkel, ist einer meiner ältesten Freunde in Berlin. Er war früher Leiter des Jüdischen Jugendzentrums, unter ihm hat die Einrichtung an Format gewonnen. Alles, was ich über das Judentum weiß und mag, verdanke ich ihm.
    Dem muffigen Galinski gefiel Arons aufgeklärte Haltung nicht, er musste gehen. Noch immer liebt er Israel, ohne zu indoktrinieren, glaubt an den jüdischen Berliner, an den Berliner Juden, der nicht totzukriegen ist. Darüber ist er fast 60 und sehr dick geworden. Arons Mutter Leah, eine resolute kleine Frau, polnische Jüdin, hat ihren Mann in einem Camp für Displaced Persons in Hessen geheiratet. Sie sind später nach Düsseldorf gezogen, wo sie auf dem Markt Kleider verkaufte, viermal die Woche. Leah spricht Jiddisch und Polnisch, etwas Russisch – und jiddisches Deutsch. Ihr gefilter Fisch und ihre Blaubeertaschen sind über die Grenzen Nordrhein-Westfalens hinaus berühmt. Eine Zeit lang gab sie immer mal wieder Kostproben ihrer jiddischen Küche im regionalen Fernsehen. Wenn Aron nicht aufaß, wurde sie schwermütig. Sie hatte im Lager gehungert. Sie würde auf der Stelle sterben, wenn er nicht aufaß. Arons Großmut ist bekannt. Er aß auf, immer und alles und überall – gesund ist das nicht.
    Jetzt greift er langsam ein und bringt der Übergetretenen bei, dass Beten, ohne zu essen, über kurz oder lang zum Exitus und nicht zum Exodus führt und dass sie daran denken solle, was ihr orthodoxer amerikanischer Lehrer dazu sagen würde. Für eine Weile haben wir Ruhe.
    Die beiden nichtjüdischen Freunde sind schwer beeindruckt, sie kommen vom Theater und sind somit für Dramen nicht unempfänglich. Eigentlich beten vor allem sie – gründlich und ernst. Ich fürchte nur, am Ende wollen auch sie übertreten, der Masochismus im Menschen ist unausrottbar. Ich stehe auf, renne herum, reiche allen Eier, Petersilie und sonstige Zutaten, während unter meinen Füßen – eigentlich schon überall – die Mazze bröselt und knirscht. Ein Stück Mazze, den sogenannten Afikoman, haben wir gut versteckt. Der Finder, so der Brauch, wird belohnt werden.
    Nach gut drei Stunden sind wir endlich erschöpft bei derSuppe mit Mazzeknödeln angekommen. Es ist ein schönes Fest. Keiner hat sich bisher gestritten, ja, es ist ein gelungener Sederabend. Es folgen drei mittelschwere Fleischgerichte mit Beilagen.
    Der Reflex, sich schlafen
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