TKKG 073 - Hilflos in eisiger Nacht
ahnte nichts.
Einerseits wollte ich nicht schon wieder mit ihm Streit. Andererseits war ich entschlossen, mir nicht mehr reinreden zu lassen in mein Privatleben. Immerhin war ich bereits 21. Also habe ich auch einen Witz gemacht, nämlich gesagt, er wäre zwar in der engeren Wahl gewesen, aber ich hätte mein Herz nun doch endgültig vergeben. An Volker, an seinen Kollegen Volker Sommer, den ich ja durch ihn kennen gelernt habe."
"Wie hat Ihr Onkel das aufgenommen?"
"Ohne jede Regung. Er verzog keine Miene."
"Wie deuten Sie das?"
"Ich glaube, in dem Moment wäre er losgegangen auf Volker."
"Und wie ging's danach?" wollte Gaby wissen.
"Nun lagen die Karten auf dem Tisch, und ich konnte mich ohne heimliches Getue mit Volker treffen.
Allerdings kühlte das Verhältnis zwischen den beiden stark ab. Volker meint heute noch, Onkel Robert hätte ihn gehasst. Wegen mir."
Die drei schwiegen. Jeder empfand, dass es eine sehr peinliche Geschichte war, die nun noch einmal - ein letztes Mal - ausgegraben wurde. Die gefühlsmäßige Verirrung eines sehr reifen Mannes, der sich in seine sehr junge Nichte verguckt und sich eine Beziehung erträumt, die von der Natur nicht vorgesehen ist.
Der Störenfried ist tot, dachte Tim. Dem jungen Glück steht nichts mehr im Wege. Aber was hat Paulmann dem Selbig mitgeteilt in dem Brief? Das wüsste ich verdammt gern. Oder ist es doch nur ein Nonsens und ohne Bedeutung?
Karl und Klößchen verfolgen
Beschatten kann sehr langweilig sein. Und im Winter kriegt man dabei kalte Füße. Karl wirkte dem entgegen, indem er auf der Stelle hüpfte, eine Hand abstützend gegen den Grünglas-Container gestemmt.
Klößchen sorgte mit seinem letzten Schoko-Riegel für inneres Feuer in den Füßen.
"Achtung!" sagte Karl.
Aber Klößchen hatte Körner schon erspäht. Der kleine Vierschröter mit den Elefantenohren kam aus Selbigs Haus, walzte zu seinem Wagen, der geringfügig beschädigten Rostlaube, und stieg ein. Er sah gesättigt aus. Das Gesicht war etwas gerötet. Vermutlich war nicht Kaffee, sondern Bier das Frühstücksgetränk gewesen.
Klößchen wartete, bis der Altkombi außer Sicht war.
"Verfolgen wir ihn?" fragte der Schoko-Fan dann.
"Den Körner? Wie denn? Willst du rennen? Oder mit dem Bike loszischen? So alt die Karre auch ist - Körner fährt trotzdem schneller als erlaubt. Also vergiss es."
"War nur ein Scherz." Klößchen klopfte beunruhigt seine Taschen ab. "Du! Ich habe nichts mehr zu essen.
Wenn die Beschattung noch lange... "
Er hielt inne. Denn jetzt verließ Selbig seine Bude. Er trug Mantel und Schirmmütze, aber keine aus der Baseball-Fashion, sondern mehr altrentnerlich. Er hatte Handschuhe, und aus dem Mantel quoll ein unschöner Wollschal.
Entweder will er zu Fuß los, überlegte Karl, oder er fährt zum Nordpol.
Selbig ließ seinen Wagen zurück. Vielleicht um sich Bewegung zu verschaffen. Oder um das Auto zu schonen. Er stiefelte eilig, aber wie jemand, dem der Hintern hängt. Vermutlich war er im Gefängnis nicht oft
zum Laufen gekommen. Die dortigen Spaziergänge im Hof kranken an Eintönigkeit.
"Ihm nach!" sagte Karl.
Sie setzten sich auf die Bikes. Doch das war zu flott als Fortbewegung. Sie kamen zu dicht auf, stiegen also ab und schoben.
Selbig ging weit, rutschte manchmal aus auf Glatteis, fing sich aber mit komischen Ruderbewegungen der Arme und schien ein Ziel zu haben. Denn er orientierte sich an Straßenschildern, und einmal fragte er ein älteres Ehepaar, das gemächlich bummelte. Der Mann wies den Weg, und Selbig sohlte weiter.
Er sah sich nicht um. An Verfolger schien er nicht zu denken. Weshalb auch.
Schließlich bog er in den Edeldammer Weg ein.
Der gehört, wie Karl vermutete, zum Stadtteil Glurichröden, liegt also noch weiter draußen als der Westbahnhof. Und das merkte man auch an der Stille, an der Sonntagvormittag-Stimmung, die auf den kleinen Grundstücken lastete wie der Druck eines riesigen Daumens.
Gärten. Holzzäune. Dünne Schneedecke. Einfamilienhäuser. Bungalows. Nur wenige Garagen. Viele Laternenparker.
Ein Grundstück war leer. Man hatte das Haus abgerissen. Ein neues sollte entstehen. Ein Metallgitterzaun grenzte die Baustelle ab. Der Rohbau war erst brusthoch, aber das Kellergeschoß zeigte, dass man hier ein größeres Gebäude geplant hatte. Vielleicht war Glurichröden mit Supermärkten unterversorgt.
Selbig ging langsam.
Karl und Klößchen stellten sich hinter einen Bretterstapel der Baustelle und
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