Tochter der Finsternis: Die Chroniken des Magnus Bane (04) (German Edition)
sich noch flüchtig daran erinnern, Tatiana Lightwood auf einer der Partys ihres Vater gesehen zu haben: Er hatte einen kurzen Blick auf ein vollkommen gewöhnliches Mädchen mit großen grünen Augen erhascht, bevor es hinter einer hastig geschlossenen Tür verschwand.
Doch selbst der Anblick der Villa und des gesamten Anwesens hatte ihn nicht auf die Begegnung mit Tatiana Blackthorn vorbereiten können.
Ihre Augen waren immer noch leuchtend grün. Ihr ernster Mund war von harten Falten umrahmt, die bittere Enttäu schung und tiefer Schmerz in ihr Gesicht gegraben hatten. Sie sah aus wie eine Frau um die sechzig, nicht wie Mitte vierzig. Sie trug ein Kleid, das schon seit Jahrzehnten aus der Mode war – es hing von ihren mageren Schultern und flatterte um ihren Körper wie ein Totenhemd. Der Stoff war mit dunkelbraunen Flecken übersät, aber an manchen Stellen hatte er einen verblichenen pastellfarbenen, fast weißen Ton, und an anderen glaubte Magnus sogar, noch das ursprüngliche Fuchsia zu erkennen.
Eigentlich hätte sie vollkommen lächerlich aussehen müssen. Sie trug ein albernes rosa Kleid, das für eine sehr viel jüngere Frau, ja, beinahe noch ein Mädchen, geschneidert worden war, die bis über beide Ohren in ihren Ehemann verliebt war und nun gekommen war, um ihrem Herrn Papa einen Besuch abzustatten.
Aber sie sah nicht lächerlich aus. Ihre strenge Miene verbot jegliches Mitleid. Wie auch das Haus war sie noch in ihrem Verfall Ehrfurcht gebietend.
»Bane«, sagte Tatiana und hielt Magnus ohne ein Wort des Willkommens die Tür auf.
Dann schloss sie sie hinter ihm wieder und der Klang der ins Schloss fallenden Tür schien so endgültig wie das Geräusch einer sich schließenden Grabplatte. Magnus blieb in der Eingangshalle stehen, um auf die Frau in seinem Rücken zu warten. Da hörte er die Schritte einer weiteren Person über ihren Köpfen, ein deutliches Zeichen, dass es noch jemand Lebenden in diesem Haus gab.
Über die weitläufig geschwungene Freitreppe kam ein Mädchen auf sie zu. Magnus hatte Sterbliche schon immer wunderschön gefunden und er hatte darüber hinaus auch schon viele Sterbliche gesehen, die allgemein als schön galten.
Die Schönheit dieses Mädchens war jedoch außergewöhnlich, eine Schönheit, wie er sie noch bei kaum einem Sterblichen gesehen hatte.
In der schmutzigen und verfallenen Ruine der Villa glänzte sie wie eine Perle. Auch ihr Haar hatte die Farbe einer Perle: hellstes Elfenbein mit einem goldenen Schimmer, während ihre Haut rosa und weiß leuchtete wie das Innere einer Muschel. Sie hatte dichte, dunkle Wimpern, die wie ein Schleier über ihren fast unnatürlich grauen Augen hingen.
Magnus holt tief Luft. Tatiana hörte es und sah ihn mit einem triumphalen Lächeln an. »Sie ist prachtvoll, nicht wahr? Meine Ziehtochter. Meine Grace.«
Grace.
Die Erkenntnis traf Magnus wie ein Schlag. James Herondale hatte nicht einfach wirres Zeug gemurmelt. Der Grund für seine tiefe Verzweiflung stand leibhaftig vor ihm!
Aber warum war das ein Geheimnis? Warum konnte ihm niemand helfen? Magnus gab sich alle Mühe, ein möglichst neutrales Gesicht aufzusetzen, als das Mädchen auf ihn zuging und die Hand ausstreckte.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie fast flüsternd.
Magnus blickte auf sie herab. Ihr Gesicht war wie eine Porzellantasse; ihre Augen glänzten verheißungsvoll. Die Kombination aus unschuldiger Schönheit und sündigem Versprechen war atemberaubend. »Magnus Bane«, hauchte sie mit leiser Stimme. Magnus konnte nicht anders als sie anzustarren. Alles an ihr war so perfekt darauf ausgerichtet, andere in den Bann zu ziehen. Sie war wunderschön, ja, aber es war mehr als das. Sie wirkte schüchtern und doch galt ihre gesamte Aufmerksamkeit Magnus, als hätte sie noch nie in ihrem Leben etwas so Faszinierendes gesehen. Es gab wohl keinen Mann, der es nicht genossen hätte, auf diese Weise von einem derart schönen Mädchen angesehen zu werden. Und auch wenn der Ausschnitt ihres Kleides ein wenig zu tief war, wirkte dies an ihr kein bisschen skandalös, denn in ihren grauen Augen lag eine Unschuld, die besagte, dass sie nichts von Verlangen wusste – zumindest noch nicht. Und doch verhieß der üppige Schwung ihrer Lippen, das geheimnisvolle Funkeln in ihren Augen, dass da mehr war, als der äußere Anschein vermuten ließ …
Magnus wich vor ihr zurück wie vor einer giftigen Schlange. Das schien sie allerdings kaum zu verletzen oder zu verärgern, ja,
Weitere Kostenlose Bücher