Tochter der Insel - Historischer Roman
am ganzen Leib. Dieser Kerl war vollkommen verrückt. Aber gerade das machte ihn so gefährlich. Vielleicht gelang es ihr zu fliehen, wenn sie ihn von sich ablenkte.
»Ich muss eines wissen: Haben Sie den Tod meiner Großmutter verschuldet?« Lea legte ein angstvolles Beben in ihre Stimme. Er sollte ruhig glauben, dass seine Kaltblütigkeit ihre Furcht noch schürte und sie gefügiger werden ließ.
Gärber blickte sie lauernd an. Dann zuckte er die Schultern. »Jahrelang habe ich gemeinsam mit der Alten ihr Vermögen gemehrt. Irgendwann war es Zeit, den Lohn einzustreichen. Weißt du, Lea, in gewisser Weise habe ich deine Großmutter bewundert. Sie war verwegen genug, Risiken einzugehen. Die Alte hat mit ihrem Vermögen gespielt wie ein Pianist auf dem Klavier. Doch trotz aller Bereitschaft zum Wagnis hätte sie es nie zum Äußersten kommen lassen. Ich habe die Sache etwas vorangetrieben. Der Schock, alles verloren zu haben, hat sie umgebracht. Gut für mich, sonst hätte ich nachhelfen müssen.«
Lea spürte, wie sich sein Griff ein wenig lockerte. Ihr brach der Schweiß aus. Jetzt! Mit einer gewaltigen Anstrengung entriss sie sich seiner Umklammerung und begann zu rennen.
»Halt! Bleib sofort stehen!«
Sie hielt auf die ersten Häuser zu, die in der Ferne vor ihr auftauchten. Lea rannte weiter und immer weiter. Keuchend rang sie nach Luft. Ihr Herz schlug, als wolle es zerspringen.
Wütendes Geschrei klang hinter ihr. Gärber schien näher zu kommen. Aus Leas Kehle entrang sich ein Schluchzer. Sie zwang sich vorwärts, lief und lief. Jeder Atemzug wurde zur Qual, die Lungen drohten zu platzen. Plötzlich spürte sie den keuchenden Atem ihres Verfolgers im Nacken. Er griff nach ihr.
Doch abermals gelang es ihr, sich von Gärber loszureißen, und sie stürmte mit tränenblinden Augen vorwärts. Plötzlich hörte sie Hufgeräusche, dann eine bestürzte Stimme: »Lea!«
Immo sprang vom Pferd und rannte auf sie zu. Er sah ihr verängstigtes Gesicht und – ihre Erleichterung.
»Immo!«
Er streckte die Hände nach Lea aus und sie stolperte ihm entgegen. Immo schloss sie in seine Arme. Seine Augen glitten über ihr Gesicht zu den Händen, die blutige Spuren trugen. Angst stieg in ihm auf.
»Was hat dieser Schuft mit dir gemacht?«
Gärber, der in einiger Entfernung stehen geblieben war, gab einen belustigten Laut von sich. »Gar nichts. Ich wollte die Dame nur küssen. Ist das etwa verboten?«
»Lea?«
»Er wollte mich zwingen, mit ihm zu kommen.«
Immo spürte, wie sie in seinen Armen zitterte. Er drückte Lea beruhigend an sich.
Mittlerweile war auch der Gendarm, der mit Immo nach Wangerooge gereist war, angekommen. Er zügelte sein Pferd, saß ab und warf Immo einen fragenden Blick zu. Dieser nickte zu Gärber hinüber. Der Schutzmann baute seine massige Gestalt vor dem betrügerischen Finanzberater auf.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie Ferdinand Gärber sind?«
»Was wollen Sie von mir?«
»Eine Erklärung vorerst einmal. Was ist zwischen Ihnen und dieser jungen Dame geschehen?«
»Sie hat mich mit ihren Reizen becirct. Als ich sie küssen wollte, ist sie davongelaufen, flatterhaft, wie junge Frauen so sind.«
»Hören Sie nicht auf ihn, er lügt«, rief Lea.
Immo löste sich von ihr und trat auf Gärber zu. »Ich weiß ganz genau, was für ein Schuft Sie sind. Sie haben nicht nur das Leben etlicher Menschen auf dem Gewissen, sondern sich auch noch an Leas Erbe bereichert, von den anderen Schurkereien, derer Sie sich schuldig gemacht haben, ganz zu schweigen. Doch jetzt ist der Tag der Abrechnung gekommen!«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« Gärber wandte sich an den Gendarmen und wies auf Immo. »Dieser Mann hier ist ein Querulant. Sie sollten ihn festnehmen und von der Insel bringen. Er stört den Wiederaufbau der Badeanstalt und widersetzt sich meinen Anweisungen, obwohl die Regentschaft mir freie Hand gelassen hat.«
Immo spürte, wie sein Zorn ins Unermessliche stieg. Er musste an sich halten, um dem arroganten Kerl nicht ins Gesicht zu schlagen. Aber er wusste, aus welchem Grund der Schutzmann hier war, und allein dieser Gedanke beruhigte ihn.
» Sie werden bald gehen«, presste Immo hervor, ohne auf die Worte Gärbers einzugehen.
»Das hatte ich auch vor. Diesen kleinen Disput können wir ja wohl als beendet betrachten.« Scheinbar kleinmütig zuckte der Betrüger die Schultern und wollte sich an dem Gesetzeshüter vorbeidrücken, doch dieser hielt ihn
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