Tochter der Insel - Historischer Roman
ich, auf einem der Schiffe unterzukommen. Oder ich bleibe in New Orleans. In der Stadt soll es Unmengen von Abendlokalen geben. Da ist bestimmt eines dabei, wo ich willkommen bin.«
Sie griff nach Leas Arm. »Aber das wird nichts an unserer Freundschaft ändern, Lea. Wenn du magst, dann besuche ich dich auf der Farm. Ich bin ja so gespannt auf Rebekka! Nach all dem, was du mir über eure Kindheit erzählt hast, steht sie mir in Wildheit wohl in nichts nach. Und deinen Neffen oder deine Nichte muss ich natürlich auch kennenlernen. Ganz zu schweigen von den Männern. Du wirst mich nicht so schnell wieder loswerden.« Sie zog Lea an sich und schloss sie in ihre Arme.
Diese drückte Bell ganz fest an sich, und der harte Klumpen in ihrem Magen löste sich langsam auf. Sie würden sich trennen, einander aber nicht aus den Augen verlieren.
Je weiter die Mary-Ann nach Süden vorankam, desto wärmer wurde es. Das Schiff segelte in den Sommer hinein. Zwischen dem Blau des Himmels und dem des Meeres glitten sie dahin. Wellen schienen mit dem Segler um die Wette zu laufen. Um der Hitze des Tages zu entgehen, suchte Lea oft Schatten unter einem der Segel. Sie liebte es, am Bug zu stehen und über das Wasser zu schauen. Schwärme großer Fische folgten dem Schiff. Manchmal blitzte ein silberner Leib auf.
In den Nächten warf der Mond seine hellen Strahlen auf das Meer. Sie lagen wie Lichtpfade auf dem schwarzen Wasser. Lea konnte sich kaum sattsehen am dicken runden Silbermann, der wie eine reife Frucht am Himmel hing.
Am 28. Mai passierte die Mary-Ann den nördlichen Wendekreis. Tagelang segelten sie wie schwerelos durch strahlendes Blau. Als Land sichtbar wurde, reihten sich die Passagiere an Deck auf. Im Nebel schimmerten die Umrisse von Bergen.
»Das muss St. Domingo sein. Gestern habe ich jemanden von der Besatzung davon sprechen hören«, rief Bell.
Wolken hingen über der Insel und schienen sich an den Gebirgskronen zu brechen.
Zwei Tage später durchquerten sie den Kanal zwischen dieser Insel und Kuba. Mit günstigem Wind kam die Mary-Ann gut voran. Wie viele andere verbrachten auch Lea und Bell die Nächte auf dem Deck, um der Hitze im Bauch des Schiffes zu entfliehen.
Waren sie seit St. Domingo fortwährend mit günstigem Wind gesegelt, so änderte sich das gegen Ende der Reise.
Am 17. Juni zogen dunkle Wolken heran, und ein starker Wind kam auf. Das Unwetter verschlimmerte sich stündlich. Der Kapitän gebot den Passagieren, in ihren Kojen zu bleiben.
Lea lag in der schwankenden Kabine und erspähte durch das Bullauge das Spektakel auf dem Ozean. Ein Albtraum! Wellen türmten sich zu Felsen auf. Das Schiff erklomm auf senkrechtem Weg das Wassergebirge, um vom Gipfel sofort in die Tiefe zu stürzen.
»Gott im Himmel, die Mary-Ann schwankt wie ein Strohhalm im Wind. Halt dich gut fest. Gleich gibt es einen Totentanz!«, schrie Bell.
Lea klammerte sich an die Seitenkanten ihres Schlafplatzes, während der Segler ächzte und stöhnte. Stunden schien der Sturm zu dauern. War es Abend oder Morgen, Lea wusste es nicht. Sie zitterte wie Espenlaub, ihr Magen rebellierte, und sie spürte, wie ihre Kräfte erlahmten.
Sie hätte alles für festen Boden unter ihren Füßen gegeben. Doch Lea musste sich gedulden und warten und wusste nicht, worauf. Auf das Ende des Sturms oder den Tod? In den schlimmsten Momenten sehnte sie ihn herbei.
Nach einer schier endlosen Zeit hörte der Wahnsinn auf. Das Schiff bewegte sich wieder ruhig und gleichmäßig. Lea sank wie betäubt auf ihr Lager und fiel in einen tiefen Schlaf.
Einen Tag und eine Nacht hatte die Mary-Ann gegen die Naturgewalten gekämpft. Als am Morgen des zweiten Tages endlich wieder blauer Himmel zu sehen war, stießen der Kapitän und die Mannschaft Seufzer der Erleichterung aus. Nachdem die Schäden überprüft waren, stieg Petersen ins Zwischendeck hinab, um nach den Passagieren zu schauen und die gute Botschaft zu verkünden, dass sie wieder an Deck gehen könnten.
Der Besatzung stand die Anstrengung ins Gesicht geschrieben. Eines der Segel war zerrissen, und die Masten mussten repariert werden.
Kapitän Petersen sprach ein Dankgebet. Klar und fest war seine Stimme, doch Lea sah die Erschöpfung in den Augen des Mannes. Seine Hand zitterte, als er die Seiten des Gebetbuches umblätterte.
Lea starrte wie gebannt auf die ruhige See, die den Gedanken an den Sturm der vergangenen Stunden unwirklich erscheinen ließ. Der Wind säuselte sacht. Wie kleine
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