Tochter der Insel - Historischer Roman
fremd.
Bell dagegen schien sich so wohlzufühlen wie seit Langem nicht mehr. Ein vergnügliches Lächeln lag um ihren Mund. Sie taxierte die Männer und konnte sich kaum sattsehen an den Roben der Frauen.
Als sie kurz stehen blieben, um in eines der Lokale zu spähen, hörte Lea eine tiefe männliche Stimme fragen: »Sind Sie allein heute Abend, meine Schönen?«
Sie drehte sich erschrocken um. Auch Bell wandte sich dem elegant gekleideten dunkelhaarigen Mann zu. Sie setzte ihr attraktivstes Lächeln auf und schüttelte bedauernd den Kopf.
»Das ist sehr schade. Ich hätte gerne den Abend mit Ihnen verbracht.«
»Man begegnet sich im Leben immer zweimal«, tröstete ihn Bell, ergriff entschlossen Leas Arm und zog sie mit sich fort.
»Was für ein Mann«, schwärmte sie und Lea spürte, dass Bells Bedauern dem Fremden gegenüber nicht gespielt gewesen war.
»Er hat uns angesprochen, aber dich gemeint.«
»Vielleicht liegt es an meinem hellen Haar. Blonde Frauen sind hier selten. Lea, ich würde ganz gerne in eines der Theater gehen, um mir eine der Vorstellungen anzuschauen.«
Kurze Zeit später saßen sie im Flowers an einem der Tische vor der Bühne. Junge, nur spärlich bekleidete Frauen brachten Getränke und verschwanden wieder zwischen den Reihen. Einige Musiker begannen zu spielen, der rote Vorhang ging auf. Ein bunter Reigen an Darbietungen begann, der mit zwei Schwestern eröffnet wurde, die Teller warfen und sie auf Stangen balancierten.
Immer mehr Gäste betraten das Theater. Das Gewirr der Stimmen übertönte fast die Musik. Der Vorhang schloss und öffnete sich wieder. Tänzerinnen wirbelten nun über die Bühne. Sie warfen ihre roten Röcke hoch in die Luft. Ihnen wurde mehr Beachtung geschenkt als den Artistinnen. Je mehr Haut sie zeigten, desto lauter jubelten die Zuschauer. Als sie von der Bühne tänzelten, tobte das zumeist männliche Publikum.
Zum Schluss trat eine Sängerin auf, deren Talent eher gewöhnlich war, die aber in ihrem dunkelblauen hautengen Samtkleid und dem weißblonden Haar die Gäste zu wahren Begeisterungsstürmen hinriss.
»Das könnte ich besser«, flüsterte Bell zu Lea herüber. An ihrem Gesichtsausdruck sah Lea, dass sie sich danach sehnte, auf der Bühne zu stehen.
Auf dem Heimweg zum Gasthaus näherten sie sich wieder der Hafengegend, und der Zauber verflog jäh. Matrosen kamen ihnen entgegen, die Mädchen der gewöhnlichsten Sorte am Arm hielten. Ihr Lachen klang kreischend, und wenn sie sprachen, vernahm man derbe Untertöne. Als die Seeleute und ihre Begleiterinnen an ihnen vorbeischlenderten, wehte ein Geruch von Whisky zu Lea herüber. Sie schüttelte sich leicht.
»Tja, auf die eine oder andere Weise scheint einem diese Stadt das Geld aus der Tasche zu ziehen«, kommentierte Bell trocken.
Am nächsten Morgen gingen sie zeitig zu den Anlegeplätzen der Schaufelraddampfer. Über den flachen Rümpfen erhoben sich Aufbauten von jeweils zwei oder drei Etagen. Schlote ragten in den Himmel und bliesen dunkle Wolken in die Luft.
»Ganz oben sind Kabinen für die reichen Herrschaften. Danach kommt das einfachere Volk, und auf Deck finden sich dann der Rest und die Sklaven. Viele Händler und Geschäftsleute pendeln zwischen den nördlichen Städten und dem alten Süden hin und her. Sie haben angestammte Plätze«, informierte sie der Fahrkartenverkäufer.
Schwarze Anschlagtafeln informierten über Ziel und Preise. Auch die Zwischenstationen waren mit Kreide notiert.
»Fahren Sie wirklich in elf Tagen bis nach St. Louis?« Bell machte ein ungläubiges Gesicht.
»Jawohl. Und es ist dabei ganz egal, ob ihr im mittleren Deck oder darüber reist. Die Fahrzeit bleibt die gleiche, nur das Futter ist unterschiedlich!« Der Verkäufer lachte über seinen eigenen Scherz.
Sie buchten eine Fahrt auf der Champion und veranlassten, dass ihr Gepäck zum Anleger gebracht wurde. Lange vor der Abfahrt ging es am Hafen schon zu wie in einem Bienenstock. Eine Kapelle spielte, Kutschen ratterten vorbei, Gepäckträger schoben sich brüllend durch die Menge.
Da ihnen noch Zeit blieb, beschloss Bell, sich ein neues Kleid zu kaufen.
»Oder kannst du dir vorstellen, dass mich jemand so auf die Bühne lässt?« Sie zupfte an ihrem schlichten Rock.
Die beiden vereinbarten einen Treffpunkt, und Lea schlenderte allein über den Marktplatz des französischen Viertels, der sich ganz in der Nähe der Kais befand. Bauern verkauften Gemüse und Kartoffeln, Italiener fremdartige Früchte,
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