Tochter der Insel - Historischer Roman
Kobolde huschten Sonnenflecken über dem Wasser.
An diesem Abend spielte kein Fiedler, und niemand tanzte. Alle waren zu erschöpft und sanken wie betäubt in ihre Kojen. Lea tat jeder Knochen weh, doch sie verspürte eine große Erleichterung. Sie waren noch einmal davongekommen.
5
D rei Tage später waren sie kurz vor ihrem Ziel. Lea spähte in die nur langsam schwindende Dunkelheit. Einer der Seeleute zog mit einer Laterne Kreise aus Licht. Wie eine Antwort darauf ertönte ein lautes Heulen, das alle zusammenfahren ließ.
Lea sah ein von Nebelschwaden umwabertes Schiff näher kommen. Seine großen Schaufelräder drehten sich langsam. Die Delta-Queen hielt längsseits und Matrosen warfen Seile herüber. Ein durchdringendes Tuten, dann nahm der Schlepper Fahrt auf und glitt durch das Wasser auf einen der Hauptarme des Mississippi zu.
Die aufgehende Morgensonne ließ den Nebel zerfließen, und Bäume und Büsche erschienen wie aus dem Nichts. Lea sah, wie sich die Farben des Mississippis mit denen des Golfs mischten. Ein schlammig braunes Band, das in Blaugrün stieß und es verdunkelte.
Der Segler wurde an den Inseln in der Mündung vorbeigezogen. Kleine Nebenflüsse führten vom Hauptstrom weg ins Verborgene. In den sumpfigeren Gebieten streckten sich ihnen entwurzelte Stümpfe entgegen. Bäume hingen, von Moos und Flechten bedeckt, halb im Wasser. Lea nahm einen modrigen Geruch wahr. Ein großer schlanker Vogel mit langem Hals stakste zwischen den im Wasser stehenden Bäumen. Die Sonne ließ sein weißes Gefieder aufleuchten.
Rebekka hatte in ihren Briefen von all dem berichtet, aber die Wirklichkeit übertraf Leas Vorstellungen. Die Welt, auf die sie schaute, war urtümlich und eigenartig fremd.
Stunde um Stunde durchpflügte die Mary-Ann den Fluss. Die ersten Zuckerrohrplantagen und Baumwollfelder kamen in Sicht. Weiß getünchte, mehrstöckige Wohnhäuser, umrahmt von Orangenbäumen, thronten majestätisch auf kleinen Hügeln, zu deren Füßen Reihen von einfachen Hütten standen.
Dann, am späten Nachmittag, erreichten sie endlich New Orleans. Eine drückende Hitze lag über der Stadt, Lea schwitzte in ihrem blauen Reisekleid.
Mit großen Augen blickte sie auf Dutzende von Kais. Seeleute verluden Fässer und Ballen in die Schiffsbäuche. Zucker und Mehl, aber auch Tabak und Whisky.
Die Schiffsglocke der Mary-Ann begann zu läuten. Kurz darauf wurden Befehle laut, Ketten rasselten, Taue flogen durch die Luft. Die Brücke zum Verlassen des Ozeanseglers wurde geräuschvoll herabgelassen.
Lea starrte auf das geschäftige Treiben hinunter. Sie sah unrasierte Männer mit Messern im Gürtel neben altehrwürdigen Herren mit Uhrketten an der Weste. Spanier in engen Samtjacken, Franzosen und natürlich Farbige in allen Schattierungen. Die Hautfarben variierten von tiefschwarz bis milchkaffeebraun.
»Diese vielen dunklen Gesichter!« Lea war sich nicht bewusst, dass sie den Satz laut ausgesprochen hatte.
Ein klug aussehender Mann mit Brille schaute sie von oben herab an. »Das ist ja nur eine Handvoll. Was glaubst du, mein Kind, wie viele von ihnen auf den Baumwollfeldern schuften. Großgrundbesitzer herrschen über ihre Plantagen und Sklaven wie Könige. Reichtum, erworben auf dunklem Rücken. Mein Vater hat mich gelehrt, alle Menschen seien von Natur aus frei und niemals Besitz eines anderen. Doch hier gilt dieses Gesetz nicht. Mich hat die Ungerechtigkeit aus Europa vertrieben, die Sehnsucht nach Freiheit. Hier im Süden könnte ich niemals leben. New Orleans ist der Inbegriff der Unterdrückung.«
»Das hören die Plantagenbesitzer gar nicht gerne. Ich rate Ihnen, Ihre Meinung für sich zu behalten, sonst sind Sie schneller wieder auf dem Schiff, als Ihnen lieb ist«, empfahl ihm ein grauhaariger Passagier spitz, der einen kugeligen Bauch vor sich herschob.
Das Gespräch der Männer wurde unterbrochen, als Zollbeamte und der Hafenarzt an Bord kamen. Kurze Zeit später wurden die Seekisten der Passagiere von Trägern zu einem Hafengebäude gebracht, und die Reisenden konnten das Schiff verlassen.
»Ich laufe wie ein alter Seebär, der seit Langem wieder einmal auf Landgang ist. Es ist, als ob der Boden unter meinen Füßen schwankte«, beklagte sich Lea, als sie den Landungssteg herabwankten.
Bell nickte. »Tja, unser Gang ist wirklich alles andere als damenhaft. Das wäre was für Kamilla Kornbach. Junge Frauen, die sich bewegen, als ob sie rittlings auf einem Pferd gesessen hätten.«
Die
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