Tochter der Insel - Historischer Roman
die harmonischste Ehe geführt. Anfangs ja, aber dann fühlte ich mich immer mehr eingeengt. Ich suchte nach Freiheit und glaubte, sie auf dem Wagentreck zu finden.«
Er verzog das Gesicht zu einem misslungenen Lächeln. »Nach einem Streit redete ich mir sogar ein, Lea einen Gefallen zu tun. Doch die letzten Monate haben mir gezeigt, dass Freiheit und Alleinsein nichts miteinander zu tun haben. Ich war auf dem Treck von Anfang an nur unglücklich und habe das Ende der Reise herbeigesehnt.«
»Von dem Kind hast du nichts gewusst, oder?«
»Nein. Ich war wohl zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Ich bin wahrscheinlich kein sehr feinfühliger Mensch.« Er hob hilflos die Schultern. »Aber wir haben uns geliebt. So gut oder schlecht, wie wir es eben konnten.«
»Ich weiß«, sagte Lea schlicht.
Arne seufzte. »Ich habe einen Teil des Gespräches zwischen dir und Joris gehört. Wenn du willst, dann nehme ich dich morgen mit nach Quincy. Du brauchst kein Geld von meinem Bruder anzunehmen, ich kann dir aushelfen.«
»Danke.«
Lea vermochte sich später nicht mehr zu erinnern, wie sie die Stunden überstanden hatte, bis sie die Farm verließen. Sie packte ihre Koffer, versorgte die Tiere und verbrachte eine Nacht voller dunkler Träume.
Am Morgen streifte sie ein letztes Mal im Haus und auf der Farm herum, um schließlich zu Arne auf den Wagen zu steigen. Er schnalzte mit der Zunge und die beiden Pferde setzten sich in Bewegung. Die Wagenräder knirschten auf der harten Erde. Lea blickte nicht zurück. Der Wind trieb Staub vor sich her, der ihnen den Mund austrocknete. Doch Lea wollte auch nicht reden. Sie musste über die Zukunft nachdenken.
Als sie eine Rast einlegten, hatte sie einen Entschluss gefasst: »Ich werde nicht nach Wangerooge zurückfahren, sondern mir ein Zimmer in der Stadt suchen. Nikolas Holzbart, ein Fotograf, hat mir Arbeit angeboten.«
Der letzte Satz stimmte nicht ganz. Sie wollte lediglich Arne beruhigen. Er sollte sich nicht verpflichtet fühlen, sich um sie zu kümmern. Doch je länger Lea darüber nachdachte, desto deutlicher wurde ihr, dass es genau das war, was sie tun wollte . Ihr Herz klopfte und ein Prickeln überlief sie. Vielleicht war sie im Begriff, eine Dummheit zu begehen. Vielleicht sollte sie das Geld von Arne lieber nehmen und nach Hause zurückkehren. Doch der Gedanke, für Nikolas zu arbeiten, ließ sich nicht mehr vertreiben. Sie war hierhergekommen, um Rebekka zu finden, mit ihr zu leben und nicht, um wieder heimzukehren. Das wäre ja wie aufgeben. Es würde sie klein machen. Und das wollte Lea nie mehr sein.
Jener verhängnisvolle Tag fiel ihr wieder ein, als Ferdinand Gärber sie bedrängt hatte. Eine Ewigkeit schien seitdem vergangen. Damals war sie vor ihm und seinen Drohungen davongelaufen. Heute würde sie das nicht mehr tun. Die letzten Monate hatten ihr viel abverlangt, aber auch viel gegeben. Das Land hatte ihr beigebracht, Stellung zu beziehen und sich zu wehren.
Lea erinnerte sich an Hiske. Sie hatte in ihrem Leben manches Leid tragen und damit fertigwerden müssen. Lea hatte einmal gefragt, wie sie all das nur aushalten konnte, und Hiske hatte geantwortet: »Man lebt einfach weiter, denn es bleibt einem nichts anderes übrig. Was auch geschieht, was man auch verliert, die Sonne geht unermüdlich auf und wieder unter.«
Lea verdrängte energisch den Gedanken an Hiske, an Wangerooge und auch den an die Farm und Joris. Gestern Nacht hatte sie noch geglaubt, alles verloren zu haben. Doch so war es nicht. Sie hatte immer noch sich selbst!
Vielleicht war das Zusammentreffen mit dem Fotografen ein Wink des Schicksals gewesen. Sie würde Nikolas ihre Dienste anbieten, gleich morgen, und schreiben, bis ihre Finger wund waren.
Lea spürte, wie sich in ihrem Inneren etwas regte. Eine zarte Pflanze, die ans Licht drängte. Joris würde ihr nicht verzeihen! Das tat unsagbar weh, doch sie würde damit leben müssen. Und sie würde nicht daran zerbrechen! Lea atmete tief durch und richtete sich auf. Sie spürte, wie sie langsam in den Rhythmus des Lebens zurückkehrte.
Als Lea das Gesicht der Sonne entgegenstreckte, musste sie die Augen zusammenkneifen. Im hellen Licht leuchteten die Blumen der Prärie wie ein bunter Sternenteppich. Der schwere Stein auf ihrer Brust wurde etwas leichter.
Sie atmete tief durch. Sie würde das alles hinter sich lassen und einen neuen Anfang wagen.
4.
Quincy
März 1855
1
W arum bist du nicht zu mir gekommen? Ich hätte dir nur zu
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