Tochter der Insel - Historischer Roman
leise. »Andere würden in der Aufmachung aussehen wie Küchenmädchen, doch dich lässt es strahlen.«
»Nun ist aber genug mit Schmeicheleien. Pack endlich deine Sachen zusammen. Ich habe Hunger und der Abend wartet auf uns.«
Lea öffnete die schwere Eichentür und die beiden Frauen traten in den Sonnenschein hinaus. Das Geschäftshaus, in dem Lea arbeitete, stand in einem der reicheren Viertel der Stadt. Auf Treppenstufen standen junge Mädchen, die die ersten Frühlingsblumen anboten. Damen und Herren promenierten auf den Straßen. Ihre prächtigen Gewänder leuchteten im Sonnenlicht. In diesem Stadtteil Quincys sah man die gestreiften Kattunkleider der einfachen Leute selten. Hier hatte die neueste Mode von New Orleans Einzug gehalten.
Kaufleute und Händler, rechtschaffen wirkend in ihren dunklen Anzügen, schritten schnell aus und unterhielten sich auf dem Weg nach Hause über die Marktlage. Ein Sprachengewirr drang an ihre Ohren. Lea dachte daran, wie angenehm es war, dass für Nikolas nur Deutsche arbeiteten. Das machte es ihr leichter. Sie verstand die Amerikaner mittlerweile recht gut, tat sich mit dem Sprechen selbst aber noch schwer.
Es herrschte trotz des späten Nachmittags noch reges Treiben. Kutschen ratterten über den Steinweg, Handwerker schrien einander Worte zu, vom Landungsplatz drangen die Signale der Flussboote. Das Wetter war herrlich. Ein strahlender Tag! Lea tat einen tiefen, glücklichen Atemzug.
Ein Mann mittleren Alters in gut sitzendem Anzug ließ einen begeisterten Laut hören und zog vor ihnen den Hut. Er war groß, korpulent und machte trotz seiner eleganten Kleidung einen raubeinigen Eindruck. Der Mann deutete eine Verbeugung an und setzte ein gewinnendes Lächeln auf, das seinem groben Gesicht mit den grünen Augen das Aussehen eines Kobolds verlieh.
»Das ist Rupert Waalkes«, stellte Lea ihn vor. »Ich habe dir vorhin von ihm erzählt. Rupert, meine Freundin Bell.«
»Es vergoldet meinen Abend, Sie kennenzulernen, Bell.« Rupert strahlte und machte Anstalten, Bell zu umarmen. Sie wich ihm geschickt aus. Lea roch an seinem Atem, dass Rupert heute schon den Saloon aufgesucht hatte.
»Wir haben leider noch etwas vor und müssen uns eilen. Einen schönen Abend für dich, Rupert«, sagte sie schnell und zog Bell mit sich fort.
»Ein komischer Kauz. Und angetrunken noch dazu.« Bell rümpfte die Nase.
»Ich kann ihn ganz gut leiden. Man muss ihn nehmen, wie er ist. Weißt du, wie er mich nennt? Das mannigfaltige Mädchen für alles. Alle Menschen, die er mag, neckt er. Seit ich das weiß, macht es mir nichts mehr aus. Rupert hat bislang für eine deutsche Wochenzeitung gearbeitet, die Anstellung aber durch seine Unzuverlässigkeit verloren. Nikolas hat lange überlegt, ob er diesen Kerl einstellen soll. Er ist wirklich nicht der Fleißigste, aber seine Berichte haben Feuer und Biss.«
»Er hat heute aber nicht nur gearbeitet … « Bell hob eine Augenbraue.
»Nikolas hat ihm schon Vorhaltungen deswegen gemacht. Rupert hat nur gelacht und behauptet, ich hätte sowieso mehr im Kopf als er und eine überschäumende Fantasie noch dazu. Da sei es ganz gut, wenn er einen Teil seiner Zeit im Saloon verbringt und mir das Schreiben überlässt. Wenn ich mich aber beschweren würde, dann wäre er geneigt, sein Verhalten zu ändern.«
»Und, hast du dich beschwert?«
»Nein. Ich bin im Grunde meines Herzens froh darüber, die Tage mit so viel Arbeit füllen zu können. So komme ich nicht zum Nachdenken. Weißt du, Bell, ich liebe es zu schreiben und unabhängig zu sein. Der Lohn ist nicht sonderlich hoch, doch es reicht für ein Zimmer im Haus der Witwe Dreesmann und die täglichen Mahlzeiten.«
Das Zimmer hatte Arne ihr besorgt. Lea seufzte kaum hörbar, als sie an die ersten Wochen dachte. Es war hart gewesen. Sie hatte gearbeitet bis zum Umfallen, um nicht nachdenken zu müssen, und ihre freie Zeit mit langen Spaziergängen verbracht. Stunde um Stunde lief sie durch die weniger belebten Stadtteile, verweilte manchmal in der Nähe des Mississippi und lauschte dem Singen der Vögel und den Geräuschen der Dampfer.
Zu Hause, in der Geborgenheit ihres Zimmers, überließ sie sich still ihrer kleinen Welt. Sie lebte wie in einer gläsernen Glocke. Sprach wenig, aß und trank, ohne etwas zu schmecken, und schlief unruhig. Jeden Morgen ging sie zur Arbeit und in den freien Stunden auf Streifzüge. Immer auf der Suche nach etwas, das sie nicht benennen konnte.
Nach und nach
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