Tochter der Nacht
entgegen.
Voller Glück erinnerte sich Tamino, daß man Papagena geschickt hatte, um Papageno das Glockenspiel zurückzubringen. Das mußte bedeuten, man hatte ihn und Pamina füreinander bestimmt, wie Papagena und den Vogel-Mann. Wenigstens stellen sie mich nicht mit irgendwelchen albernen Verkleidungen auf die Probe, dachte Tamino und nahm sich vor, im Gegensatz zu dem einfältigen Papageno sein Versprechen zu halten und zu schweigen. Da Pamina das Gewand einer Novizin trug, mußte sie den Sinn dieser Prüfung ebenfalls verstehen und begreifen, weshalb er nicht mit ihr sprach. Und als Sarastros Tochter verstand sie das alles wahrscheinlich ohnehin viel besser als er.
Tamino nahm die Flöte entgegen und vermied dabei, Pamina in die Augen zu sehen. Er wollte sich nicht leichtsinnig zu einer Äußerung hinreißen lassen, weil er wußte, aus Freude über ihren Anblick würde er sich vielleicht doch nicht beherrschen können, vor allem, weil sie ihm die Flöte brachte.
Tamino hatte sich bemüht zu verstehen, was es mit der Flöte auf sich hatte. Der alte Priester, sein Begleiter, hatte ihm gesagt, er würde die Prüfungen von Erde, Wasser, Luft und Feuer zu bestehen haben. Möglicherweise stand die Nacht in der Gruft, umgeben von den Symbolen des Todes und der Sterblichkeit, für das Element Erde, dem sie alle entstamm-ten, und zu dem sie alle zurückkehren mußten. Tamino wuß-
te es nicht genau, doch nahm er an, der Priester würde es ihm erklären, wenn die Zeit gekommen war.
War seine Liebe zu Pamina vielleicht die Prüfung des Feuers? Er sehnte sich verzweifelt nach ihr; er wollte bei Pamina sein, mit ihr sprechen, sie fragen, ob sie soviel für ihn empfand wie er für sie. Er wollte wissen, ob sie vielleicht nur in eine Ehe mit ihm einwilligte, weil sie sich dem Willen von Vater und Mutter beugte. Würde er sie unter diesen Voraussetzungen wollen, oder wollte er sie auf jeden Fall?
Tamino spürte eine sanfte Berührung am Arm.
»Tamino«, bat Pamina sanft, »bitte sag etwas.«
Er schüttelte stumm den Kopf und versuchte immer noch, sie nicht anzusehen, doch einen Blick aus den Augenwinkeln konnte er sich nicht versagen. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Pamina seidene Gewänder getragen, und in ihren Haaren funkelten Edelsteine. Sie war ihm als Prinzessin gegen-
übergetreten, als Tochter der Sternenkönigin und des mächtigen Priester-Königs Sarastro. Nun war sie wie er in ein schlichtes, grobgewebtes weißes Gewand gekleidet, die langen blonden Haare fielen ihr glatt und ohne jeden Schmuck über die Schultern und reichten ihr beinahe bis zur Hüfte. Vor den Mysterien, dachte er, sind wir wieder gleich. Tamino lächelte sie an und schüttelte den Kopf.
»Machst du dich lustig über mich?« bestürmte ihn Pamina.
»Wir müssen miteinander reden. Wir haben soviel zu bespre-chen. Ich muß wissen, ob du diese Ehe wirklich willst, oder ob du mich nur willst, weil die Wahl meines Vaters auf dich gefallen ist, und du einwilligst, weil ich die Tochter des mächtigen Priester-Königs bin. Weißt du überhaupt, daß Sarastro mehr als ein Priester ist? Er ist der Sonnen-König und herrscht über ganz Atlas-Alamesios. Willst du mich deshalb, oder lockt dich diese Stadt mit all ihrem Glanz und Reichtum?«
∗ ∗ ∗
Es klang mitleiderregend. Tamino öffnete den Mund, um sie zu beruhigen. Den Thron von Atlas-Alamesios zu besteigen?
Was konnte ihm, dem Sohn des Kaisers im Westen, an einem Thron liegen, den sie erben würde! Er wollte Pamina, Pamina…
Aber nein. Die Hofdamen der Sternenkönigin hatten alles getan, um ihm Angst einzujagen, und Papagena hatte Papageno auf die Probe gestellt. So versuchte Pamina an seine Ge-fühle zu appellieren und wollte ihn zum Reden bringen.
Nein, er würde sich nicht überlisten lassen! Er wollte Pamina nicht verlieren, indem er unüberlegt die Regeln übertrat, die für die Prüfung galten. Tamino griff nach der Flöte, setzte sie an die Lippen und begann zu spielen.
Lieblicher Klang erfüllte das stille Gewölbe, und die Sonnen-strahlen umtanzten die Totenköpfe auf den Säulen. Die Musik erfüllte ihn mit Frieden, und Tamino versuchte, seine ganze Liebe für Pamina, sein Vertrauen und das Wissen, daß sie nur durch Gehorsam zusammenkommen konnten, in sein Spiel zu legen. Und während die Töne in dem sonnen-
überfluteten Raum aufstiegen, fragte er sich, ob dies vielleicht die Prüfung der Luft war.
Denn durch die Luft, die sie atmeten, würden sie miteinander reden.
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