Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
Vater sahen auf. Ein Mann in dunkler Kleidung stand vor dem Tempel. Der aufkommende Sturm riss an seinem Mantel und seinem schütteren Haar. Tiefe Furchen liefen von seiner Nase zu seinem Kinn, er hatte wülstige Lippen, die fast künstlich wirkten. Er ließ seinen Blick über sie huschen, aber als Gabriella ihn direkt ansah, senkte er die Augen.
»Verzeiht die Störung, aber ich dachte, Eure Tochter möchte vielleicht ins Haus zurückkehren. Ihre Freunde haben nach ihr gefragt.«
»Das ist Tabor«, sagte Gabriellas Vater. »Mein Berater. Er wird dich zurückbegleiten. Lass mich noch ein wenig hier, wo ich mich der früheren Welt näher fühle.«
Gabriella beugte sich hinunter, küsste ihn auf die Wange und folgte dann Tabor. Dieser ging neben ihr her, ohne mit ihr zu sprechen, und auch Gabriella bemühte sich nicht um eine Unterhaltung. Der Mann war ihr unangenehm, auch wenn sie nicht sagen konnte, woher dieses Gefühl kam. Sie blickte, um nicht in seine Richtung schauen zu müssen, zu der lang gestreckten Halle hinüber, die sie mit ihren hohen Spitzbogenfenstern an ein gotisches Kirchenschiff erinnerte.
»Ihr interessiert Euch für dieses Gebäude?«, ließ Tabor vernehmen. »Es ist die Halle der Jäger. Dort ruhen sie, ohne Erinnerung, während ihr Geistkörper von Eurem Vater in Eure Welt gesandt wird, um Flüchtige zu jagen. Es befinden sich noch Jäger dort. Falls es Euch interessiert, geleite ich Euch gern hinüber, ehe die Nacht hereinbricht.«
»Vielleicht ein andermal. Wir werden erwartet.« Obwohl ihr bei dem Gedanken ein Schauer über den Rücken lief, dass dort halbtote Männer lagen, hätte Gabriella gerne hineingesehen. Tabors Gegenwart war ihr jedoch so unangenehm, dass sie lieber weitergehen wollte.
»Auch Ramesses, der Sohn von Darran, hat dort gelegen«, fügte er hinzu.
Dieser Satz gab den Ausschlag. Grund genug jedenfalls, die Gegenwart dieses Mannes zu ertragen und dieser Halle einen Besuch abzustatten. Dort hatte Darrans Körper gelegen, während sie sich in seinen Geistkörper verliebt hatte. Der Wind war heftiger geworden, und Gabriella war erleichtert, als Tabor die Hallentür aufstieß und sie in die windstille Halle trat. Drinnen blieb sie allerdings sofort hinter der Tür stehen, als die drückende Atmosphäre einer dunklen Gruft sie überfiel. Sie hätte am liebsten wieder umgedreht, fühlte sich jedoch von Tabor beobachtet. Er zeigte zu einem Sarkophag in der Mitte der Halle. »Dort lag er.«
Es kroch ihr kalt die Wirbelsäule entlang, als sie sich vorstellte, dass Darran hier gelegen hatte. Wie ein Toter, während sein Geist, sich seines Körpers unbewusst, der Erinnerungen beraubt, in ihrer Welt Entflohene jagte. Es war grausam.
Wie magisch angezogen, schritt sie zu dem steinernen Sarg hin. Ein Glasdeckel wie bei Schneewittchen, dachte sie, oder wohl eher einer Horrorversion davon. Sie sah hinein. Er war leer. Sie atmete erleichtert auf, obwohl sie nicht wusste, was sie erwartet oder befürchtet hatte.
»Sind …«, sie musste sich räuspern, »sind noch Jäger in den anderen Särgen?«
»Einige. Willst du dir die Männer ansehen?« Er hatte die übertrieben höfliche Anrede fallen lassen, aber Gabriella war so benommen, dass sie nicht weiter darauf achtete.
Tabor hob einen Stein auf, der neben einem der Sarkophage lag. »Damit nimmt er ihnen das Bewusstsein, die Erinnerung, macht sie zu seinen willenlosen Puppen.«
Gabriella gefiel der Tonfall nicht. Sie fragte dennoch: »Sind es nur Männer?«
Tabor lachte kurz auf. »Frauen sind zu kostbar in diesem Land. Selbst für jemanden wie Strabo, der sich seine Weiber auch in anderen Welten sucht.«
Zuerst glaubte Gabriella, sich verhört zu haben, aber als sie Tabors hämisches Grinsen sah, wusste sie, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Ehe sie jedoch eine scharfe Antwort geben konnte, ertönte eine andere Stimme: »Da ist sie ja, die Buhlentochter.«
Gabriella wirbelte herum. Nicht nur dieser Ausdruck, auch die Stimme war ihr inzwischen nur allzu vertraut. Und da kam die schöne Frau auch schon mit geschmeidigen Schritten auf sie zu.
»Du hast nicht alle aufgeweckt«, fuhr Tabor Malina an.
»Willst du mir etwa Vorschriften machen?« Sie funkelte ihn an. »Geh jetzt! Mach dich nützlich!«
»Sprich nicht in diesem Ton mit mir«, begehrte Tabor auf. »Wir haben eine Vereinbarung …«
»Du wirst deinen Lohn erhalten. Dessen sei dir gewiss. Und jetzt geh! Ich will mit ihr allein sein.«
Tabor warf Gabriella noch
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