Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
zur Tür hinaus. »Diesen Gang entlang, dann rechts und an den ehemaligen Stallungen vorbei.«
»Danke.« Sie lächelte verlegen. An dieses antiquierte »Ihr« und »Euch« musste sie sich erst gewöhnen.
Der alte Mann verließ sie, und Gabriella wandte sich ihrem Rucksack zu. Es fanden sich zwei unangetastete Müsliriegel darin. Die Wasserflaschen waren alle weg, dafür lag ihr Buch ganz zu unterst, und darauf die Tafel Schokolade. Sie überlegte, ob sie Levana suchen sollte, aber dann beschloss sie, zuerst zu Kräften zu kommen. Sie biss herzhaft in die Riegel und spülte dann mit dem Getränk nach. Seltsames Gebräu, schmeckte eigentlich gar nicht so schlecht, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte. Warm und vollmundig lief es ihre Speiseröhre hinunter und wärmte ihren Magen. Sie setzte sich auf das Bett, verspeiste bedächtig die kostbaren Müsliriegel und trank nach. Geschmacklich kein Vergleich mit einem Espresso oder einem Cappuccino – aber von der Wirkung her war es mindestens ebenso effizient. Die Kopfschmerzen ließen nach, ihre Sitzfläche fühlte sich besser an, und der Hunger wurde gestillt. Eine Art magisches Gesöff vermutlich. Der Gedanke ließ sie kichern, bis sie auf der anderen Seite des Raumes einen Spiegel entdeckte.
Ihre Finger tasteten unwillkürlich über ihre Wange. Als sie in Darrans Armen gelegen war, hatte sie kaum mehr an die Verletzung gedacht, aber nun war es wohl an der Zeit, den Tatsachen ins Auge oder eher auf die Wange zu sehen. Sie trat vor den Spiegel, blinzelte zuerst feige hinein, riss dann jedoch staunend die Augen auf. Da war nicht mehr als ein schmaler roter Streifen. Hässlich und ärgerlich genug, aber bei Weitem nicht so entstellend, wie sie befürchtet hatte.
Nachdem sie sich ausgiebig und zunehmend erleichtert bestaunt hatte, beschloss sie, sich auf die Suche nach ihrem Vater zu machen. Von diesen geheimnisvollen, magischen Kraftorten hatte Darran ihr schon erzählt, und auf den ihrer eigenen Familie war sie besonders neugierig. Sie klopfte ihre Jeans aus, schüttelte den Sand aus dem T-Shirt und den Schuhen und floh, in den dichten Mantel gehüllt, aus dem stickigen Raum.
Von Darran war weit und breit nichts zu sehen, auch nicht von den anderen. Entweder hatte er doch die von Strabo bereitgestellten Räume aufgesucht, oder er hatte anderswo Unterschlupf gefunden. Sie überlegte kurz, ob sie Levana suchen sollte, aber dann zog sie der Weg in einen versteinerten Park hinein. Früher musste dies ein üppiger Garten gewesen sein, sehr ähnlich dem auf der Rückenlehne des Stuhls. Trockene Brunnen, Steinbänke, Steineinfassungen erinnerten an die ehemalige Pracht.
In der Mitte des Parks tauchte ein tempelartiges Gebäude auf. Sie ging zügigen Schrittes darauf zu und wurde erst langsamer, als sie näher kam. Sie fand ihren Vater in der Mitte des Tempels sitzend, das Haupt gebeugt, mit herabhängenden Schultern. Er wirkte müde und erschöpft. Unsicher, ob sie ihn stören durfte, blieb sie stehen, aber da hob er den Kopf und lächelte sie an. »Komm nur, mein Kind, setz dich zu mir. Dies ist dein Ort wie der meine.«
Gabriella stieg die Stufen hinauf, und in dem Moment, als sie die Säulen passierte, auf denen das Dach ruhte, legte sich der Wind, als umgäbe diesen Ort ein unsichtbarer Schutz. Sie nahm neben ihrem Vater auf einer Steinbank Platz, und Strabo wies auf Reliefs an den Säulen. »Hier siehst du deine Vorfahren.«
»So etwas habe ich schon auf diesen Tempeln außerhalb des Palastes gesehen.«
Strabo nickte. »Die Kraftstätten all jener, die zum Hof der Herrscher von Amisaya gehörten. Sie haben ihre Tempel in unmittelbarer Nähe zum Palast gebaut. Damals herrschte hier noch blühendes Leben.« Er zeigte auf eine Säule ihnen gegenüber. »Dies hier ist der Vater meines Großvaters. Und hier mein Vater und ich selbst. Die Bilder entstehen von selbst, sobald ein neues Familienmitglied geboren ist. Es gab eine Zeit, da kamen die Ältesten hierher, um zu sterben. Deine Großmutter tat es, als sie entschied, zu den Nebeln zu gehen.«
»Dort will jemand freiwillig hin?« Gabriella schauderte.
Strabo lächelte milde. »Es war ein würdevoller Abschied, ein Eingehen in eine andere Welt. Jeder, der im Sterben lag, aus welchem Grund auch immer, dessen größtes Anliegen war es, am Kraftort seiner Ahnen zu sterben und so unmittelbar von ihnen aufgenommen zu werden.«
Gabriella erhob sich, um sich die Reliefs näher zu besehen. Das waren also ihre
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