Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
ballte. Und zugleich schreckte er davor zurück. Er fiel ein wenig zurück, als sie langsamer wurde und gelegentlich einen Blick über die Schulter warf. Er musste vorsichtig sein. Wenn dies die kleine Gabriella war, dann sah auch sie ihn, sofern sie diese Fähigkeit nicht verloren hatte. Und er wollte ihr keine Angst einjagen, er wollte sie beobachten, studieren, kennenlernen. Er musste herausbekommen, was an ihr anders war als an allen anderen.
Inzwischen wusste er genug, um sich in der komplizierten Welt der Menschen zurechtzufinden. Sie lebten in Häusern und suchten meist bestimmte Orte auf, an denen sie arbeiteten . Wenn er herausfand, wo sie sich aufhielt, konnte er sie jederzeit wieder aufsuchen, selbst wenn der Befehl des Grauen Herrn ihn ans andere Ende der Welt senden sollte.
Es wurde Abend, es dämmerte bereits. Die junge Frau ging mit raschen Schritten, ohne nach rechts oder links zu schauen. Das bedeutete vermutlich, dass sie sich auf dem Weg in ihr Heim befand.
In dieser Stadt war Darran noch nie auf Jagd gewesen. Er sah sich neugierig um. Der Weg führte durch einen Markt. Die Besitzer räumten ihre Stände ab, Abfall lag auf der Straße, ein Windstoß wirbelte trockenes Laub und Papierschnitzel hoch. Ein Kind lief ihm über den Weg, ein Hund lief hechelnd durch ihn hindurch, und eine Frau fuhr ihm mit einem Kinderwagen zuerst über die Zehen, dann durch seine Schienbeine. Er sah, spürte, merkte nichts davon, denn dort war sie .
Ihre Schultern waren etwas nach vorn gebeugt, sie hielt den Kopf gesenkt, als wäre sie müde. Er versuchte, die Jahre zu zählen, die vergangen waren, seit er in der Stadt der Kanäle auf sie getroffen war. Sie konnte nicht alt sein, nicht einmal nach menschlichen Maßstäben. Und sie sah auch nicht alt aus, nur traurig.
Er war so in ihre Betrachtung versunken, dass er ihr, als sie abrupt stehen blieb, viel zu nahe kam. Er wollte ausweichen, aber in diesem Moment drehte sie sich plötzlich um. Darran erschrak und verschwand, löste sich auf, um sie von der anderen Seite unbemerkt zu beobachten. Nur einen Wimpernschlag später und sie hätte ihn entdeckt. Sein Herz klopfte überraschend schnell, und sein Atem ging hastig. Er legte die Hand auf die Brust. Bisher hatte er seinen Körper nie so befremdlich deutlich gefühlt.
Ihr Blick glitt suchend über den Markt, aber als sie in die Richtung sah, aus der er ihr gefolgt war, befanden sich nur Menschen dort. Er selbst stand schon längst hinter einem Marktstand verborgen in ihrem Rücken. Er kniff die Augen zusammen, sich selbst kaum dieser menschlichen Geste bewusst, als er beobachtete, wie sie – ebenfalls mit zusammengekniffenen Augen – die Straße hinauf- und hinuntersah. Endlich schüttelte sie den Kopf, als wollte sie einen Gedanken vertreiben, und ging weiter.
Er folgte ihr, dieses Mal vorsichtiger und aus so großer Entfernung, dass er sie nicht mehr deutlich sehen, sondern nur noch ihre Aura spüren konnte. Sie blieb vor einem der mehrstöckigen, schmalen Häuser stehen, die sich an den Markt anschlossen. Er sah ihr aus sicherer Entfernung zu, wie sie einen Schlüssel hervorzog, das Haustor aufschloss und im Haus verschwand.
Das kleine Mädchen Gabriella hatte sich in der Zwischenzeit wirklich stark verändert. Das war hier so üblich. Kinder wuchsen, wurden größer, ihr Äußeres passte sich ihrem reifenden Charakter an, und schließlich alterten sie. Nur in Amisaya schienen alle gleich zu bleiben. Nein, das stimmte wohl nicht. Veränderung gab es auch dort, allerdings viel langsamer, wie Julian ihm einmal erklärt hatte. Die Menschen in Amisaya waren nicht unsterblich, selbst wenn sie nicht von den Nebeln aufgelöst wurden. Aber sie alterten in einem Zeitraum, den man auf der Erde »eine halbe Ewigkeit« genannt hätte – auch wenn Darran fand, dass Menschen diesen Ausdruck oft und recht leichtfertig verwendeten, oft schon auf Minuten und Stunden bezogen.
Verglichen damit hatte er tatsächlich schon eine halbe Ewigkeit darauf gewartet, dieses Mädchen wiederzufinden.
Zufrieden blickte er die Fassade empor. Hinter einem dieser Fenster also wohnte sie. Und hier würde er sie immer wieder finden. Er wartete noch eine Weile, dann verschmolz er mit den Schatten und folgte dem nunmehr ungeduldigen Ruf des anderen Jägers, um endlich die Beute zu stellen.
***
Als Darran dieses Mal dem Grauen Herrscher entgegentrat, hatte er noch mehr zu verbergen als sonst. Nicht nur seine Gedanken, seine Fragen, seine
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