Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
bedrückt.
»Und dein Vater?«
Ihr Vater? Gabriella war knapp davor, höhnisch aufzulachen – ein Schemen, von dem sie nicht einmal wusste, ob er nicht den Fantastereien ihrer Mutter entsprang und sie nicht an derselben Krankheit litt. War das eigentlich Schizophrenie oder eher Verfolgungswahn?
»Der ist vor vielen Jahren gestorben«, sagte sie über die Schulter. »Als ich noch ein Kind war.«
Rita nickte. Sie blickte sich weiter um. An der Wand hingen einige gerahmte Zeichnungen, Gabriellas gelungenste Comics. Weitere Zeichnungen zierten das Wohnzimmer; bis auf die ganz schlechten, die niemand sehen durfte – die hatte ihre Mutter schmunzelnd in ihrem Schlafzimmer aufgehängt.
»Sind die von dir?«, riss Ritas Stimme sie aus ihren Gedanken.
Gabriella nickte stolz.
»Putzig. Kinderzeichnungen. Die hat wohl deine Mom aufgehängt.« Rita lächelte. Zumindest ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, die Augen waren hinter der Sonnenbrille verborgen.
»Hm«, meinte Gabriella. »Willst du nicht die Brille abnehmen? Oder soll ich Licht anmachen?«
»Nein, geht schon.« Rita klang plötzlich ganz kleinlaut.
Misstrauisch geworden, drehte Gabriella sich um. »Ach, sei doch einmal so nett und nimm sie trotzdem ab«, bat sie sie. Gleich darauf rutschten ihr die Tassen fast aus den Händen. »Um Himmels willen! Was ist denn mit dir passiert?«
»Gegen die Tür gerannt.« Rita grinste schief und zuckte zusammen. Kein Wunder, dieses Veilchen musste ordentlich schmerzen; es zog sich vom Auge fast über die ganze linke Wange. »Im Dunkeln, vorgestern Nacht, weil ich aufs Klo musste und kein Licht aufdrehen wollte.«
Gabriella setzte die Tassen härter ab als gewollt. Dann drehte sie sich abrupt um, holte Zucker und Milch. Das Kaffeewasser kochte, sie goss das Wasser auf und sah zu, wie der Kaffee durch den Filter lief, um Zeit zu gewinnen. Ihre Hände zitterten vor Wut, als sie die Kanne auf den Tisch stellte.
Sie sprachen nicht viel, sondern aßen fast schweigend. Wenn Gabriellas Blicke nicht von Ritas knallpink la-ckierten künstlichen Nägeln angezogen wurden, dann sah sie auf das blaue Auge. Es zog sie an wie Zuckerwasser die Ameisen.
Rita wurde immer unruhiger, schließlich legte sie die Gabel weg. »Na schön, ich sag’s dir.« Sie senkte den Blick. »Georg, er … na ja, ihm rutscht halt manchmal die Hand aus, weißt du.«
Damals eine geschwollene Lippe. Jetzt ein blaues Auge. Gabriella blieb der Bissen im Hals stecken. Sie würgte, hustete. Rita schob ihr mit einem halb spöttischen, halb resignierten Ausdruck die Kaffeetasse hin. »Da, trink was.« Sie sah Gabriella zu, wie diese sich mit der Serviette über den Mund wischte. »Du hast wohl noch nie Streit mit einem Kerl gehabt, was?«
Gabriella blieb abermals die Luft weg. »Streit haben heißt nicht gleich schlagen!«
»Tun sie aber oft ganz gern. Wenn sie nicht mehr wissen, was sie sagen sollen. Und ich hab halt ein blödes Mundwerk.« Sie lächelte leicht und zuckte abermals zusammen. »Ich kann meinen Schnabel nicht halten, weißt du.«
»Das ist kein Grund …«
Rita unterbrach sie. »Mein Dad hat meine Mom auch manchmal geschlagen, früher zumindest, als ich noch klein war. Später ist er dann ruhiger geworden, auch wenn er getrunken hat. Er hat sie aber wirklich gern gehabt.«
Gabriella antwortete nichts. Sie starrte auf ihren Teller und das halb gegessene Tortenstück, als wäre es Gift. Erst als Ritas Sessel knarrte, sah sie hoch. Rita nahm ihre Kaffeetasse, den Teller und stellte beides in das Spülbecken. »Ich muss jetzt gehen, ich wollte nur kurz Hallo sagen, bevor meine Schicht anfängt. Ich wäre auch am Abend gekommen, aber ich kann meinen Dad nicht so lang allein lassen.« Sie tippte sich an die Stirn. »Er vergisst schon alles. Auch oft, wo er wohnt. Oder dass er aufs Klo muss.« Sie ging zur Tür.
Gabriella sprang auf und folgte ihr. Rita zog sich soeben die dünne Jacke an. Die Sonnenbrille saß schon wieder auf der Nase. »Also dann, mach’s gut. Und wenn du was brauchst, sag’s mir, ja?« Sie öffnete die Tür, trat hinaus auf den dunklen Gang und blieb fröstelnd stehen. »Kalt ist es hier bei euch. Na ja, es wird halt langsam Herbst.« Sie zog sich das kurze Jäckchen enger um den Körper. Dann winkte sie Gabriella zu und ging zur Treppe.
»Rita?«, sagte Gabriella hastig.
»Ja?«
Gabriella lief ihr nach und umarmte sie. »Danke. Du bist wirklich nett.« Sie konnte nicht deutlich sprechen, weil sie Tränen unterdrückte,
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