Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
einer Bank bei der U-Bahn-Station aufgegabelt hatte. Das Mädchen mit dem weißblonden Haar und den pinkfarbenen Jeans war ihr allerdings nicht wegen ihrer Aufmachung aufgefallen, sondern weil Gabriella dachte, sie sehe interessiert einem Grauen nach, der soeben durch die Straße streifte und dann wie ein Hauch in einer Hausmauer verschwand.
Der Gedanke, eine Leidensgenossin zu treffen, hatte Gabriella zu Rita hingezogen, die seltsam verloren auf der Bank saß und gedankenverloren dem Grauen nachstarrte. Erst als sie näher gekommen war, hatte sie gesehen, dass die junge Frau älter war, als sie zuerst gedacht hatte, und vermutlich nicht auf den Grauen gestarrt hatte, sondern die Augen so voller Tränen hatte, dass sie wahrscheinlich ihre ganze Umwelt nur schemenhaft wahrnahm. Zuerst hatte sie vorbeigehen wollen, aber dann war ihr die geschwollene Lippe aufgefallen. Sie hatte sich hingesetzt und ein Gespräch begonnen. Und am Ende hatte sie ihr eine Visitenkarte von Antonios Imbissstube in die Hand gedrückt und sie wissen lassen, dass ihr Boss eine Hilfskraft für die Küche suchte. Rita war zwei Tage danach eingestellt worden.
Ihre Kollegin zuckte erschrocken zusammen, als die Tür so unvermittelt aufgerissen wurde, dann lächelte sie scheu. »Hallo, Gabi. Stör ich dich?«
»Nein.« Das klang nicht freundlich. Nicht einmal höflich, und sie rang sich ein halbherziges Lächeln ab. Es waren nicht viele Leute zum Begräbnis gekommen, denn Camilla hatte sehr zurückgezogen gelebt. Aber Rita war da gewesen. Für das Begräbnis hatte sie ihre neonpinkfarbenen Leggins gegen schwarze Jeans eingetauscht und ihr grelles Haar unter einer dunklen Kappe verborgen. Heute war sie wieder ganz sie selbst, bis hin zu den weißen Stiefelchen mit Bleistiftabsätzen. Mit leisem Neid musste Gabriella zugeben, dass ihre Kollegin niedlich damit aussah, auch wenn sie selbst einen großen Bogen um solche Kleidung machte. Aber sie hatte auch nicht Ritas zarte Figur.
»Darf ich reinkommen?« Rita hob ihr etwas unbeholfen ein Päckchen entgegen. »Ich hab was zu essen mitgebracht. Wenn du Kaffee hast? Oder Tee?« Als Gabriella nur stumm und überrascht das Päckchen anstarrte, trat sie von einem Bein aufs andere. »Das habe ich einmal im Fernsehen gesehen. Wenn jemand stirbt, dann kommen die Nachbarn und bringen etwas zu essen. Weil die Angehörigen sich dann wohl nicht zum Kochen aufraffen können. Oder es einfach vergessen.«
Rita blieb etwas zögerlich in der Diele stehen, bis Gabriella ihr die weiße Jacke abnahm. Die war nichts zum Wärmen, sie reichte knapp bis zur Taille. Gabriella fröstelte. »Geh nur weiter. Lass die Stiefel an!«, setzte sie hinzu, als Rita sich daranmachte, sie auszuziehen.
Rita schob den Vorhang zur Seite, der die Diele von der Küche trennte, und trat ein. »Nett hast du’s hier.«
»Hm, ja danke.«
»Tut mir echt leid, das mit deiner Mom, Gabi.« Rita sagte oft Mom, anstatt Mutter oder Mama , wie Gabriella das gewöhnt war. Mama , mit italienischem Akzent. »Als meine damals gestorben ist, war das sehr schlimm. Ich war erst fünfzehn, weißt du. Na ja, ist ja auch schon eine Weile her.« Rita grinste schief. »Da musste ich damals allein durch, mein Dad war nämlich schon nicht mehr richtig gesund.«
»Ich verstehe.« Das tat sie tatsächlich. Obwohl Rita kein Plappermaul war, wusste sie, dass ihr Vater schon an fortschreitender Alzheimererkrankung litt. Kein leichtes Los, weder für den Vater noch für sie.
Die Kücheneinrichtung war altmodisch und abgewohnt, aber der Raum war so groß, dass noch bequeme Stühle und ein großer runder Tisch darin Platz hatten, auf dem Gabriella meistens den Laptop stehen hatte.
Rita zog sich einen Stuhl zurecht, setzte sich hin und beobachtete Gabriella. Dazwischen sah sie sich um.
»Du lebst allein, oder?«
Gabriella nickte nur.
»Hast du jemand?«
Gabriella wandte Rita den Rücken zu und verdrehte die Augen. Bisher hatte sie Rita noch weniger über sich preisgegeben als umgekehrt. Aber diese Frage musste ja einmal kommen. »Nicht im Moment«, erwiderte sie, kurz angebunden. Schon längere Momente nicht mehr; genaugenommen hatte ihre letzte Beziehung, oder ihr Verhältnis, denn für eine Beziehung hatte sie selbst zu wenig Zuneigung aufbringen können, vor einem Jahr geendet – zu der Zeit, als ihre Mutter kränker geworden war. Gabriella hatte ihrem Bekannten keine Träne nachgeweint. Sie hatte auch keine Zeit dazu gehabt, ihre Sorgen hatten sie zu sehr
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