Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
die ihr in die Augen stiegen. Ein Normalzustand in der letzten Zeit. Und das Grübeln machte es nicht besser.
Rita tätschelte ihr tröstend den Rücken. »Schon gut. Ich sag’s ja, das ist jetzt eine blöde Zeit. Die geht aber vorbei.« Sie machte sich los – ein Lächeln, das ihr zweifellos wehtat – dann lief sie die Treppe hinunter. Gabriella drehte rasch das Ganglicht auf, damit ihre Kollegin nicht stolperte, stand da und lauschte den Schritten nach, bis sie unten die Haustür ins Schloss fallen hörte.
Als sie wieder in die Küche trat, fiel ihr Blick auf das geöffnete Päckchen. Darin waren noch zwei Stück Kuchen. Sie schenkte sich Kaffee nach, gab einen Extralöffel mehr Zucker hinein und rührte mit einem gedankenvollen Blick auf den Laptop um. Dann zuckte sie die Schultern, trug Kaffee und Torte ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und begann langsam zu essen.
Sie fühlte sich mit einem Mal jämmerlich allein und sah sich, nach Ablenkung suchend, im Raum um. Bisher hatte sie sich hier wohlgefühlt, aber mit einem Mal schien die Vergangenheit in jeder Ecke auf sie zu lauern. Das Schlimmste war für Gabriella, dass sie ihre Mutter in den letzten Minuten allein gelassen hatte, und allein war sie auch gestorben. Ihre Mutter hatte sie zwar fortgeschickt, aber sie hatte das Krankenhaus nicht verlassen, sondern draußen nur ein paar Worte mit der Schwester gewechselt. Nur wenige Minuten. Aber diese waren schon zu viel gewesen, denn als sie wieder ins Zimmer gekommen war, war ihre Mutter ganz ruhig gelegen, und der Tod hatte das Zimmer in vollkommene Stille gehüllt.
Sie fröstelte plötzlich und griff geistesabwesend nach der Decke, die neben ihr über der Stuhllehne hing. Rita hatte recht, es war wirklich kühl hier. Und befremdlich düster wurde es plötzlich. Sie schaltete die Stehlampe an, aber die Glühbirne verdrängte die Dunkelheit nicht, sondern machte sie Gabriella erst richtig bewusst. Die Schatten ringsum verdichteten sich, als wäre das Licht zu schwach, sie zu bekämpfen, und plötzlich hatte Gabriella das unheimliche Gefühl, sie bewegten sich auf sie zu.
Sie war nicht allein im Raum. Noch jemand anderer außer ihr war hier. Und es war ganz bestimmt kein Mensch.
Sie hatte Angst, und eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie um sich. Da! War da nicht eine Bewegung in der Ecke? Als würde dort etwas lauern? Und kam nicht die Kälte von dort, wie ein Hauch aus einem Eiskeller?
Gabriella sah sich nach einer Waffe um. Ihr Blick fiel auf die Kuchengabel.
Viertes Kapitel
Das Volk von Amisaya war in Scharen gekommen, um dem Spektakel beizuwohnen, das der Entflohene ihnen bot. Ein grausamer Zeitvertreib in einem Land, in dem schon seit Langem keiner mehr eines natürlichen Todes gestorben war. Mochte sein, dass viele Neid empfanden, weil sie des Lebens hier überdrüssig waren. Aber die Zeiten, in denen die Alten freiwillig in die Nebel gegangen waren, um aus dem Leben zu scheiden, waren vorbei. Diejenigen, die die große Katastrophe, die blutigen Kriege und Feldzüge überlebt hatten, klammerten sich an ihr jämmerliches Dasein, als gäbe es für sie alle noch einmal Hoffnung.
Vor Zeiten war hier alles grün gewesen, voller Blüten, Pflanzen, Bäche, Flüsse, Seen, so klar, dass man vermeinte, bis auf den Grund greifen zu können. Die Luft hatte vibriert vor Leben, Freude, Schönheit, Stimmen und Gesang. Nun strich der Wind schon lange nicht mehr durch flüsternde Blätter, sondern wirbelte Sand und Staub auf, heulte durch die traurigen Steinhütten, die sich an Felsen schmiegten, als hätten sie Angst, auf der freien Ebene vom kleinsten Luftzug davongetragen zu werden.
Auch die Kulisse für dieses Schauspiel war nicht mehr als eine Erinnerung an vergangene Pracht. Der Palast des Herrschers hatte bisher dem Verfall getrotzt, aber auch hier lag der ständig gegenwärtige Sand auf den Säulen, rieselte in kleinen Brocken vom Dach wie Hagelkörner, schlug sich an den blinden Fenstern oder wirbelte durch die zerbrochenen Scheiben. Wo früher die Edlen, Höflinge und Krieger aus- und eingegangen waren, wo reges Treiben geherrscht hatte, fand sich nun nur noch Totenstille, lediglich unterbrochen vom Gemurmel der Schaulustigen, das an den hohen Mauern widerhallte.
Eine Schneise bildete sich vor einem Mann, der sich gemächlichen Schrittes näherte. Er verschwendete kaum einen Blick auf die anderen, die danach
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