Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
können?«
Strabo blieb stehen und drehte sich um. Er sah überrascht aus. »Es gibt keinen Grund für die Nebel, das Todesurteil über dich zu sprechen. Du hast die Gesetze der Jäger gebrochen und bist zurückgekehrt, weil du dich Gefühlen hingegeben hast, aber du hast nicht getötet. Und du hast nicht die Barriere durchquert, die deinen Körper verändern würde.« Er ging weiter, sichtlich gleichgültig gegenüber dem Schwert in Darrans Hand. Woher wusste er, dass Darran ihn niemals von hinten angreifen würde? Selbst wenn er seinem Wunsch nachgegeben hätte, sich auf ihn zu stürzen, er hätte es nicht über sich gebracht.
Er torkelte ihm leise fluchend hinterher. Flüche, die er von früher kannte, die damals aber niemals über seine Lippen gekommen wären. Sie umrundeten die Halle. Darran blieb, auf sein Schwert gestützt, stehen.
Der Palast war ihm in seiner Jugend bezaubernd erschienen. Nur die unteren beiden Stockwerke besaßen geschlossene Räume. Die oberen bestanden aus Säulenhallen und vermittelten den Eindruck, als schwebe der ganze Bau in der Luft. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass die Krieger des Herrschers in den goldenen Zeiten an heißen Tagen in eben diesen Säulenhallen gesessen, über das blühende Land geblickt und den leichten Wind, der sie umspielte, genossen hatten. Darran hatte Amisaya nie anders gekannt als jetzt. Trostlos und zerstört, vom Krieg zwischen den Völkern vernichtet.
Er sah Wachen um den Palast marschieren, bewaffnet mit den tödlichen Bogen. Strabo hielt allerdings nicht auf den Palast zu, sondern ging die Rückseite der Halle entlang, bis sie an ein niedriges Steingebäude stießen, in dem ehedem Diener gewohnt hatten.
»Hier lebe ich jetzt«, beantwortete der Graue Lord Darrans unausgesprochene Frage.
Darran folgte ihm in einen Raum, der im Quadrat wohl ungefähr zwanzig mal zwanzig Schritte messen mochte. Hier lebte der Herrscher? »Der Palast ist nicht mehr bewohnbar«, fuhr Strabo fort, als er Darrans Verwunderung bemerkte, »seit die Magie fast zur Gänze von den Alten eliminiert wurde.«
Darran hatte daran keine Erinnerung. Seine Erinnerungen endeten mit … ja, mit dem Schmerz. Mit seinem Zorn, als er sich gegen Strabo aufgelehnt hatte, als er sich mit eben dem Schwert, das er jetzt mit sich schleppte, auf ihn hatte stürzen wollen.
»Wie viel Zeit ist vergangen, seit du mich meines Lebens beraubt hast?«, fragte er mit gepresster Stimme.
Strabo klatschte in die Hände, und ein alter Mann erschien. Er trug ein gefülltes Glas auf einem Kristalltablett und nickte Darran ernst zu. Er kannte ihn, er war Strabos Diener gewesen, seit Darran das erste Mal als Junge diesen Palast betreten hatte. Er stellte das Glas auf ein Tischchen, verneigte sich vor Strabo und verließ fast geräuschlos den Raum.
Strabo deutete auf eine Steinbank. »Setz dich und trink. Du wirst die Kraft brauchen. Aber nur langsam, dein Körper muss sich daran gewöhnen.«
»Wie viel Zeit?«, wiederholte Darran beißend. Er sah auf das Glas, rührte es jedoch nicht an.
»In Menschenjahren? Oder in unseren?« Strabo lachte kurz auf. »In Menschenjahren vermutlich, denn wir haben hier schon lange aufgehört, die Zeit zu messen. Ein Tag ist hier wie der andere, ein Jahr wie ein anderes.« Er machte eine Pause, dann sagte er knapp: »Einhundertacht.«
Einhundertacht Jahre! Das war mehr als das Dreifache von Gabriellas Alter und damit von jener Zeit, in der er begonnen hatte, zu fühlen. Seit er sie getroffen hatte. Der Schmerz, der ihn bei diesem Gedanken erfasste, war schlimmer als das Erwachen im Sarkophag, er schnitt wie ein stumpfes Messer quer durch seinen Körper.
Strabo wies ungeduldig auf die Bank. »Und nun setz dich.« Der Herrscher drehte sich um und verließ den Raum.
Darran starrte auf das Getränk, ohne sich zu rühren. Jetzt erst merkte er, wie trocken sein Mund war. Seine Eingeweiden verkrampften sich beim Anblick des Glases und beim Gedanken an Essen. Er ließ sich kraftlos auf den Stuhl fallen und beschloss, erst später über alles und vor allem über Strabos seltsames Verhalten nachzudenken. Er griff nach dem Glas und roch daran. Der aromatische Duft war vertraut. Jenes kostbare Getränk, das die Krieger im Kampf bei Kräften hielt, das Leben spendete. Die Menschen hatten es Ambrosia genannt und behauptet, es stünde nur Göttern zu. Vielleicht hatte sich sein Volk auch zu gottähnlich gefühlt und war zu Recht bestraft worden.
Zuerst benetzte er nur seine Lippen und
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