Tochter der Träume / Roman
Blick auf das Wasser gerichtet. Sie hatten eine Tüte mit altem Brot dabei, das sie an die Enten verfütterten, die sich gierig quakend vor ihnen tummelten.
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie Ivys Traum benutzen würde, um mich zu rufen. Machte sie das nur meinetwegen, oder war es aufrichtig gemeint?
Mit einer leichten Handbewegung zeigte sie auf einen Weg zu meiner Rechten, der auf einige große Trauerweiden zuführte. Dort würden wir vor Ivys Blicken geschützt sein. Es wäre nicht klug, wenn meine Schwester mich sähe. Sie träumte oft von Mom, kein Zweifel, aber sie könnte es unheimlich finden, mich hier zu sehen, und mich später darauf ansprechen. Ich musste damit rechnen, dass ihr diese Begegnung im Gedächtnis haften blieb.
Lange brauchte ich nicht zu warten. Ich wusste zwar nicht, was meine Mutter zu meiner Schwester gesagt hatte, um ihren plötzlichen Aufbruch zu entschuldigen, aber sie tat es mit raschen Worten und war innerhalb weniger Minuten bei mir hinter den Trauerweiden, die sich wie gramgebeugte Nymphen neigten und deren grüne Zweige bis auf das Gras hinabreichten.
»Ich habe nicht viel Zeit«, sagte meine Mutter, während eine junge Frau mit einem Kleinkind im Buggy an uns vorbeispazierte. »Ich habe Ivy gesagt, dass ich uns kurz ein Eis holen gehe, aber sie gerät in Panik, wenn ich zu lange weg bin.«
Ich biss mir auf die Zunge, denn fast wäre mir eine spitze Bemerkung herausgerutscht. Bestimmt wusste meine Mutter genau,
warum
meine Schwester sogar in ihren Träumen ein solches Verhalten zeigte. Alter spielte bei Verlustängsten keine Rolle.
»Hast du ihn gefunden?«, fragte sie mich, während ihr Blick unruhig über mein Gesicht huschte.
»Ja«, erwiderte ich und berichtete ihr eine leicht verdauliche Version dessen, was Karatos gesagt hatte. Ein paar Dinge ließ ich weg, beispielsweise, dass ich fähig war, Dinge zu tun, die nicht einmal Morpheus zu tun vermochte, sowie die Tatsache, dass Karatos versucht hatte, mir das Gleiche anzutun wie Noah. Darauf wollte ich jetzt nicht eingehen. Noah zu retten – und ja, auch mich – hatte absoluten Vorrang.
Am wichtigsten aber war, dass ich ihr erzählte, dass es mindestens einen Spion gab, der den Dämon mit Informationen versorgte. »Aus diesem Grund ist Karatos uns immer einen Schritt voraus. Jemand aus Morpheus’ engstem Kreis ist ein Verräter.«
Das Gesicht meiner Mutter verriet blankes Entsetzen. Ich konnte nur ahnen, wie sehr diese Nachricht sie bestürzte. Der Himmel wusste, wie viele Geheimnisse bereits verraten worden waren. »Der Dämon muss unbedingt aufgehalten werden«, flüsterte sie.
»Ist dir das auch schon aufgefallen.« Ich war überrascht, wie bissig ich bei dieser Antwort klang. Gut, es war kein Geheimnis, dass ich einen gewissen Groll gegen meine Mutter hegte, aber woher war dieser plötzliche Ausbruch gekommen?
Wir blinzelten einander an.
»Tut mir leid«, sagte ich und meinte es ernst. »Ich weiß nicht, wieso ich das gesagt habe.«
»Du stehst ziemlich unter Druck.« Obwohl ich mich gerade wie eine verzogene Göre aufgeführt hatte, war sie immer noch bereit, eine Entschuldigung für ihre Kleine zu finden.
»Ja«, sagte ich matt. Was hätte ich sonst auch sagen sollen. »So wird es sein. Karatos ist mir entwischt. Ich werde es noch einmal versuchen müssen.«
Gerade als sie den Mund öffnete, um etwas zu erwidern, rief Ivy nach ihr. Meine Mutter warf einen kurzen Blick über ihre Schulter und wandte sich dann noch einmal zu mir. »Ich werde es deinem Vater berichten. Unternimm nichts, bevor du mit ihm gesprochen hast.«
Ich nickte. »Geh, Ivy wartet.« Das meinte ich nicht abfällig, aber irgendwie klang es in meinen Ohren so.
Meiner Mutter schien das allerdings nicht aufzufallen. »Sei vorsichtig«, flüsterte sie, und ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen. Dann umarmte sie mich. Nicht leicht und flüchtig wie bei einem kurzen Abschied, sondern verzweifelt und fest, wie eine Mutter, die Angst um ihr Kind hatte. Es schnürte mir die Kehle zu, und ich spürte ein Brennen in meinen Augen, doch ich riss mich zusammen.
Es war eigenartig, denn hinter den ungeweinten Tränen und dem Bedürfnis, sie ebenfalls zu umarmen, flüsterte mir eine leise Stimme zu, dass genau jetzt der richtige Zeitpunkt war, ihr eine saftige Ohrfeige zu verpassen oder ihr ein Büschel Haare herauszureißen. Ich wusste nicht recht, wessen Stimme es war, die ich da hörte.
Aber sie klang verdammt nach meiner.
Noah
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