Tochter der Träume / Roman
sehen.« Er wies mit der Hand auf Noahs leeren Stuhl, für den Fall, dass ich vergessen hatte, um wen es ging. »Sie scheinen das Beste aus ihm herauszuholen.«
Ich wusste nicht recht, was ich darauf sagen sollte. »Danke.« Wo zum Teufel blieb Noah nur? Er müsste längst zurück sein. Ich blickte mich flüchtig um und sah, wie er bei der Karaokeanlage stand und mit Mia sprach. Die Stimmung zwischen den beiden schien nicht gerade rosig zu sein. Mia wirkte aufmüpfig, während ihr großer Bruder ihr wegen ihres unmöglichen Benehmens die Leviten las. Gut so.
Ich drehte mich wieder zu meinem Tischnachbarn um, dem meine zufriedene Miene nicht entgangen war. Er lächelte kurz, was aber ehrlich gemeint war, und stützte die Ellbogen auf die verschrammte Tischplatte. Dabei schien es ihm nichts auszumachen, dass sein teuer aussehendes Hemd Flecken abbekommen könnte. »Hat er mit Ihnen über seine Vergangenheit gesprochen?«, fragte er, während die Bedienung mir mein Bier hinstellte.
Das war bereits das zweite Mal an diesem Abend, dass mich jemand nach Noahs Vergangenheit fragte, und ich begann, mir allmählich Gedanken zu machen, was es damit auf sich hatte. Außerdem fing es an, mich zu nerven. Amanda war vielleicht eine dumme Ziege, aber Warren hätte sich diese Frage wirklich sparen können. »Sie verstehen, dass ich Ihnen darauf keine Antwort geben kann«, sagte ich in aller Freundlichkeit.
Er griff mit seinem langen Arm nach dem Glas und hob es an die Lippen. »Ja, das verstehe ich. Aber er ist schon lange nicht mehr mit einer Frau ausgegangen, und dass er Sie hierher mitnimmt …«
»Er ist mein Patient«, sagte ich. Ich hasste das Wort, insbesondere, wenn es um Noah ging. »Alles andere wäre ethisch und moralisch nicht vertretbar.«
Warren zog eine Braue hoch und ging wohlweislich nicht näher darauf ein. »Egal, ich hoffe, er wird sich Ihnen öffnen. Er braucht jemanden, dem er vertrauen kann.« Und mit einem kleinen Zwinkern fügte er hinzu: »Und – verzeihen Sie – er braucht mal wieder Sex.«
Dann stand er auf und ging davon, ließ mich einfach zurück, während ich vor Scham am liebsten auf der Stelle im Erdboden versunken wäre. Ich nahm einen kräftigen Schluck Bier – und gleich noch einen hinterher.
Lange saß ich nicht allein. Warren musste gesehen haben, dass sein Bruder zurückkam, und war deshalb aufgestanden, denn nur wenige Sekunden später saß Noah wieder neben mir.
Er warf ein paar Scheine auf den Tisch. »Möchtest du los?«, fragte er.
Ich griff nach meiner Handtasche. »Gern. Was bin ich dir schuldig?« Er sah mich an, als hätte ich ihn gebeten, mir den Arm abzusägen.
»Du bist eingeladen«, sagte er.
»Dann war das eine Verabredung?«, fragte ich und zog eine Braue hoch.
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
Mir rutschte das Herz in die Hose, und meine Gesichtsröte verstärkte sich. Doch dann stand Noah auf und streckte mir eine Hand entgegen. »Tanz mit mir, dann können wir von einer Verabredung sprechen.«
Tanzen? Jemand von den Karaoke-Leuten sang gerade ein Lied von Bon Jovi, eine Ballade. Es ist mir peinlich, aber ich muss gestehen, dass meine Beine zitterten, als ich aufstand. Ich liebte Bon Jovi.
»Wir können jetzt unmöglich gehen«, sagte Noah und führte mich zur Tanzfläche. »Nicht, wenn gerade deine Lieblingsband gespielt wird.«
»Woher weißt du das?« Woher wusste er das? Ich war glühender Bon-Jovi-Fan, hatte alle CD s und kannte die Texte zu fast allen Songs auswendig – insbesondere die der Balladen.
Hatte Karatos es ihm erzählt?
Er grinste. »Von deinem Mousepad.«
Das Mousepad, das ich in meinem Büro auf dem Schreibtisch liegen hatte, zeigte das CD -Cover von
Have a Nice Day
. Dass Noah eine solche Kleinigkeit wahrgenommen hatte, überraschte mich. Meine Kollegen, mit denen ich tagtäglich zu tun hatte, kannten wahrscheinlich nicht einmal meine Augenfarbe. Und Noah nahm sogar mein Mousepad zur Kenntnis.
Wir bewegten uns in Richtung der Tanzfläche weiter, und ich stellte meine Handtasche auf die seitliche Balustrade, damit ich sie im Blick haben konnte. Doch sobald Noah seine Arme um mich gelegt hatte, waren alle Gedanken verschwunden. Wie so typisch für unsere Generation, tanzten wir den langsamen Walzer nicht im klassischen Stil, genau gesagt, tanzten wir nicht einmal Walzer. Wir hielten uns einfach nur umschlungen – seine Arme um meine Hüften, meine Arme um seinen Hals – und begannen, uns langsam zur Musik zu drehen. Dennoch
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