Tochter der Träume / Roman
»Was bist du? Ein menschliches Wesen?«
Mist, aber er nahm das alles viel gelassener hin, als ich es an seiner Stelle getan hätte. »Halb.«
Abrupt blieb er stehen. Wenn wir in diesem Tempo weitermachten, würden wir nie pünktlich an unseren reservierten Tisch kommen. Er starrte mich mit großen Augen an, Augen, die so schwarz waren wie die Nacht und in denen sich das Licht der Straßenlaternen spiegelte. Leute liefen gleichgültig an uns vorbei. »Und die andere Hälfte?«
Jetzt war ich es, die sich vor ihn stellte. »Traumwesen«, erwiderte ich. »Mein Vater ist der Gott der Träume.«
»Morpheus.«
Ich war beeindruckt. »Ja, so nennt man ihn gemeinhin. Was weißt du sonst noch über ihn?«
Das Wesentliche wusste er, nämlich dass Morpheus der Sohn von Hypnos, dem Gott des Schlafes war und dass er der Gestalter der Träume war. Er wusste sogar, dass Morpheus’ Brüder über andere Gestalten der Traumwelt herrschten. Er wusste so ziemlich alles, was man bei Google nachlesen konnte. Das genügte – mehr brauchte er vorerst nicht zu wissen.
»Meine Mutter ist ein menschliches Wesen«, erzählte ich. »Sie liegt schon seit sehr langer Zeit in Toronto in tiefem Schlaf. Meine Familie glaubt, sie befindet sich in einer seltsamen Art von Koma, tatsächlich aber ist sie in der Traumwelt bei meinem Vater. Die beiden wollen, dass ich Zeit mit ihnen verbringe, und im Gegenzug dafür will mein Vater den Dämon vernichten.«
Noah blinzelte, wandte den Blick ab und sah mich dann wieder an. »Und du lügst mich bestimmt nicht an? Um einen Verrückten wie mich bei Laune zu halten?«
Mir wurde langsam kühl vom Herumstehen. Meine Nase war schon ziemlich kalt, doch ich rührte mich nicht. Ich sah ihm in die Augen, lächelte und hoffte, dass ich so vertrauenerweckend wie möglich wirkte. »Nein, du bist nicht verrückt. Ich wünschte, du wärst es.«
»Dieser Dämon – warum ist er hinter mir her?«
»Ich weiß es nicht. Ich dachte, vielleicht meinetwegen, aber wie es scheint, hat er dich schon gequält, bevor er mir nachgestellt hat.«
»Und dein Vater hat versprochen, den Dämon zu vernichten?«
»Genau«, antwortete ich und zog die Schultern hoch, als es plötzlich auffrischte und der abendliche Wind mir eisig über den Rücken strich.
Noah musste meine rotgefrorene Nase bemerkt haben, denn er begann, weiterzulaufen. Das war mir recht, kaltes Wetter stand mir nicht besonders gut. »Erzähl mir, wie das alles sein kann.«
Das tat ich. Ich erzählte ihm von meiner Mutter, die, bevor sie mit mir schwanger wurde, eine Fehlgeburt gehabt hatte, was sie in eine tiefe Depression stürzte. Dies führte dazu, dass sie immer länger einfach schlief und dass sie irgendwann Morpheus begegnete, mit dem sie eine Affäre begann. Daraus war ich schließlich hervorgegangen. Als Kind hatte ich viel Zeit in der Traumwelt verbracht. Von Jackey Jenkins erzählte ich ihm nichts, wohl aber, dass es ein Schlüsselerlebnis gegeben hatte, das mich dazu bewog, Mauern um mich herum zu errichten.
»Meiner Familie kann ich das alles nicht erzählen, denn sie würden mir nie und nimmer glauben«, sagte ich. Zum ersten Mal in meinem Leben weihte ich jemanden in mein streng gehütetes Geheimnis ein. »Sie sind so sehr in Sorge um Mom, dabei erlebt die gerade die beste Zeit ihres Lebens.«
»Und du hast Schuldgefühle, weil du deine Mutter besuchen kannst und die anderen nicht.«
Ich brachte ein gequältes Lächeln zustande. »An dir ist ein Psychologe verlorengegangen.«
Inzwischen waren wir vor dem Lokal angekommen – eine Art Pub, der noch spät geöffnet hatte und Bier und deftiges Essen servierte. Meine Hüften hassten mich jetzt schon dafür.
Die Hände in den Manteltaschen, wiegte sich Noah auf den Fersen. »Warst du meinetwegen bei Morpheus?«
Er klang ein wenig zu lässig, und ich wollte nicht, dass er glaubte, ich wäre allein seinetwegen dort gewesen. »Und meinetwegen.«
Er musste etwas in meiner Miene gelesen haben, bevor ich den Blick abwandte, denn er fragte mit leiser Stimme: »Hat dir der Dämon etwas angetan?«
Mein Lächeln war gezwungen. »Sprechen wir nicht mehr von ihm. Lass uns auf ein Bier und einen Burger hineingehen und das Ganze vorerst vergessen.«
Er nickte. »Klar.« Doch ich wusste, dass die Geschichte damit längst nicht zu Ende war. Als er mir die Hand entgegenstreckte, ergriff ich sie. Seine Finger waren warm und kräftig – und sein Griff fest genug, dass ich mich einen Augenblick lang fühlte,
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