Tochter der Träume / Roman
treffen wollte, aber ich fragte nicht nach. Ich winkte ihm noch kurz zu und eilte dann die Eighth Avenue hinunter zur U-Bahn-Station. Im Vorbeigehen kaufte ich mir einen Hotdog, der mir, so ungesund er war, außerordentlich gut schmeckte.
Pünktlich zur vereinbarten Zeit stand ich bei Noah vor der Haustür. Bevor ich klingelte, vergewisserte ich mich, dass ich keine Senfreste im Gesicht hatte, indem ich in den Spiegel meiner Puderdose blickte. Meine Wangen und mein Kinn waren von der kalten Luft leicht gerötet, aber das ließ sich nicht ändern. Ich hatte heute nicht viel Make-up aufgetragen, nur Wimperntusche und ein wenig getönten Lippenbalsam. Noah würde das ohnehin nicht auffallen.
Er öffnete mir die Tür, barfuß, in grauem T-Shirt und schwarzer Batman-Pyjamahose – bequeme Kleidung eben.
Er lächelte, und seine Augen strahlten. »Hey.«
»Hey«, erwiderte ich, ebenfalls lächelnd. »Hübsche Hose. Könnte es sein, dass du einen Superhelden-Komplex hast?«
Sein Lächeln wurde breiter. Er trat einen Schritt zurück und ließ mich ein. »Die Hose hat mir meine kleine Schwester geschenkt. Ich glaube, sie hat den Komplex.«
Von der Erwähnung des kleinen Monsters würde ich mir nicht die gute Laune verderben lassen.
»Komm rein«, sagte er. »Ich zeige dir, wo du dich umziehen kannst.«
Ich folgte ihm durch den weiten, leeren Übungsraum über den polierten Hartholzfußboden, der an manchen Stellen abgenutzt war. Eine Wandseite wurde komplett von einem Spiegel eingenommen, die anderen Wände waren in einem Graugrün gestrichen, das vermutlich weniger empfindlich war als Weiß. An der hohen Decke waren Leuchtröhren angebracht, die taghelles Licht verströmten.
Am hinteren Ende führte eine Tür auf einen langen Gang. Wir kamen an einer Tür mit der Aufschrift »Büro« vorbei und zu einer weiteren, auf der »Damen« stand. Ich bedankte mich bei Noah und verschwand im Umkleideraum.
Warren hatte offenbar nicht viel weibliche Kundschaft. Nur vier der Schließfächer waren mit Schlössern versehen, und der Fliesenboden sah neu aus. Als Teenager wäre mir nie eingefallen, mich für Kampfkunst zu interessieren, hätte ich jedoch gewusst, dass man dort jede Menge Jungs treffen konnte, hätte ich es mir wahrscheinlich anders überlegt.
Da ich allein im Umkleideraum war, verzichtete ich darauf, mich hinter einer der Vorhangkabinen umzuziehen. Stattdessen verzog ich mich in eine Ecke, nur für den Fall, dass Noah zurückkam. Zwar hätte ich nichts dagegen gehabt, dass er mich halbnackt sah, aber wenn, dann doch lieber bei etwas schmeichelhafterem Licht und nach ein oder zwei Bier.
Ich schlüpfte in eine bequeme Sporthose, zog mir ein T-Shirt über und band mir das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann ging ich barfuß zu meinem persönlichen Mr.Miyagi – wie der Karatemeister aus
Karate Kid
hieß, gespielt von Pat Morita, den ich viel besser fand als Steven Seagal.
Noah saß auf einer Matte in der Mitte des Dojo und dehnte die Arme über die ausgestreckten Beine. Ich setzte mich zu ihm und begann ebenfalls mit ein paar Dehnübungen. Zwar hatte ich das Wort Sport aus meinem Wortschatz gestrichen, aber sogar ich wusste, dass es wichtig war, die Muskeln vor dem Training zu lockern.
»Bei Aikido geht es um gewaltlose Abwehr«, erklärte Noah, während er sich nach vorn lehnte und seine Brust gegen die Oberschenkel drückte. »Ziel ist, die Kraft des gegnerischen Angriffs abzuleiten und nicht zurückzuschlagen.«
»Aber genau das will ich doch – zurückschlagen.« Schließlich wollte ich ja nicht einstecken müssen.
Seine Lippen zuckten leicht. »Du willst verhindern, dass dein Gegner dich trifft, und sorgst gleichzeitig dafür, dass ihm die Puste ausgeht. Zurückschlagen zerstört die Harmonie deiner Kräfte.«
»Hast du je zurückgeschlagen?«, fragte ich. Doch die Frage bedauerte ich sogleich, als ich sah, wie sich seine Miene plötzlich verschloss und der stoischen Maske wich, die ich nur allzu gut kannte.
»Klar«, antwortete er ausdruckslos. »Aber zuerst trainieren wir die Abwehr. Später können wir uns anderem zuwenden, sofern du dann noch Interesse hast.«
Das hatte ich bestimmt, und zwar nicht nur für das Kampftraining. Noah schleppte einiges mit sich herum, vielleicht mehr, als man sich bei seinem festen Freund wünschen würde, doch das Risiko wollte ich eingehen. Die Frage war, ob ich ihn um seiner selbst willen wollte oder weil ich glaubte, ihn »heilen« zu können.
Das klang
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