Tochter der Träume / Roman
Sollte ich ihm etwa sagen, dass ich seit Monaten in ihn verliebt war? Wie konnte ich ihm begreiflich machen, dass ich seine Stärke brauchte, ohne dabei selbst schwach zu erscheinen?
Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar, schob ein paar seidenschwarze Strähnen aus der Stirn.
Mein Schweigen war ihm offenbar Antwort genug. Als er die Brauen zusammenzog, fiel ein leichter Schatten auf seine hohen Wangenknochen. »Ich brauche dich nicht, um mich zu retten.« Seine Stimme klang kontrolliert. »Ich bin kein armes Opfer, dem du zu Hilfe eilen musst.«
Wenigstens hatte er mir nicht vorgeworfen, ihn »heilen« zu wollen.
»Noah …«
Er unterbrach mich mit einem Blick, aus dem unverhohlene Bitterkeit sprach. »Such dir einen anderen, der dir beibringt, gegen Karatos zu kämpfen. Ein Opfer wie ich nützt dir wenig. Ich komme auch allein klar.«
Bei jedem anderen, der sich so wie ein Märtyrer aufführte, hätte ich nur die Augen verdreht. Doch als Noah davonging, fühlte ich mich schrecklich, weil ich etwas, das so wunderbar begonnen hatte, mit Pauken und Trompeten vermasselt hatte. Dabei wusste ich, dass er ganz und gar nicht gut allein klarkommen würde. Karatos würde ihn weiterhin quälen.
Oder töten. Und das wäre dann allein meine Schuld.
Dumm ist der, der Dummes tut.
Dieser weise Spruch von Forrest Gumps Mama sollte fortan mein persönliches Motto sein. Ich war so dumm, dümmer ging es kaum. Dabei hatte ich doch nur sichergehen wollen, dass er mich mochte und vielleicht noch in meiner Nähe wäre, wenn wir das Problem mit Karatos gelöst hatten.
Denn für weniger gab ich mein Herz nicht her.
»Taschentuch?«, fragte Lola, die sich neben mir auf dem Sofa fläzte. Auf der Mattscheibe saß Forrest noch immer an Jennys Bett, aber wir beide wussten, was nun folgte … und ich nahm gleich zwei Papiertaschentücher aus der Schachtel.
Auch wenn ich diesen Film schon unzählige Male gesehen hatte, vergoss ich immer noch Tränen, wenn Tom Hanks sagte: »Du bist an einem Samstag gestorben.« Eigentlich brachte mich die gesamte Grabrede für Jenny stets zuverlässig zum Heulen. Und Lola ging es genauso, weshalb wir immer eine große Schachtel Taschentücher griffbereit hatten.
In Augenblicken wie diesem vermisste ich meine Familie am meisten. Aus dem gleichen Grund vermied ich es tunlichst, mir Wiederholungen von
Unsere kleine Farm
anzusehen. Ich verging jedes Mal vor Rührseligkeit und bekam Heimweh, sehnte mich nach meinem Dad und seinem frisch gebackenen Brot, und ja, auch nach meiner Mutter.
Der Anruf meiner Schwester Joy kam also zu einem Zeitpunkt, als ich gerade sehr verletzlich war. Diesmal ließ ich nicht den Anrufbeantworter drangehen, sondern hob gleich ab. Ich wollte die Stimme meiner Schwester hören, aus welchem Grund auch immer sie anrief.
»Passt es gerade schlecht?«, fragte sie nach einem kurzen Hallo. Joy war sechs Jahre älter als ich und mir altersmäßig am nächsten. Ich betrachtete sie – wie alle anderen – als meine leibliche Schwester, egal, wer mein biologischer Vater war.
Ich schniefte und putzte mir die Nase. »Nein. Lola und ich haben nur gerade
Forrest Gump
gesehen.«
Sie lachte leise. »Deshalb klingst du so verheult.«
Ich schniefte noch einmal, lächelte aber dabei. »Ja. Was gibt’s?« Es war nicht etwa so, dass ich unbedingt einen Grund für ihren Anruf erwartet hätte, aber Joy rief normalerweise nie an, nur um von sich hören zu lassen.
»Ivy wollte dich eigentlich anrufen, aber ich dachte, es wäre vielleicht besser, wenn ich das tue.«
Meine eben noch rührselige Stimmung wich einem Anflug von Angst. »Was ist passiert?«
»Nichts Schlimmes.« Doch ich hörte bereits ein großes
Aber
. »Wir werden Mom von einem Spezialisten untersuchen lassen.«
Ich furchte die Stirn. »Von was für einem Spezialisten?« Soweit ich wusste, gab es niemanden für unser Problem.
»Ivy hat einen Neurologen in Boston ausfindig gemacht, der sich Moms Fall ansehen will.«
Klar, Ivy hatte sich gekümmert. Das war eigentlich kein Grund, mich zu ärgern. Ivy meinte es schließlich nur gut mit Mom. Sie wusste ja nicht, was ich wusste, nämlich dass sie das Geld – Dads Geld – zum Fenster hinauswarf, um eine Frau zurückzuholen, die nicht bei uns leben wollte.
»Mom wurde bereits von drei verschiedenen Neurologen untersucht«, erinnerte ich sie. »Und es hat nichts gebracht. Niemand kann herausfinden, was mit ihr los ist.« Niemand – außer mir. Und mir würde niemand
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