Tochter der Träume / Roman
nicht schnell in die Hand nahm, dann würde ich ihm bald überallhin folgen – wohin er mich auch führte.
»Und Träume, die man steuern kann«, witzelte ich und unterbrach die Spannung.
Noahs Blick ruhte auf dem Kaffeebecher in seiner Hand. »Haben Sie auch Alpträume, Doc?«
»Sicher. Wie Sie.«
Er nickte. »Die meisten meiner Träume sind so, bis ich sie verwandle.«
»Alpträume sind bei kreativen Menschen nichts Ungewöhnliches«, belehrte ich ihn, nun wieder ganz die Ärztin. »Ich habe einmal gelesen, dass neunzig bis fünfundneunzig Prozent aller Träume von Schriftstellern oder anderen Künstlern Alpträume oder zumindest aufwühlend sind.«
»Früher dachte ich immer, Alpträume seien etwas Schlimmes, heute bin ich mir da nicht mehr so sicher.«
»Nein?« Ich horchte auf. »Warum das?«
Er hob den Blick, und seine ebenholzschwarzen Augen hielten mich gefangen. »Ich denke, dass manch dunkler Traum dazu da ist, anderen zu helfen.«
Ich schluckte. So wie er mich ansah, kam ich mir wie ein gefangenes Tier im Käfig vor – ein fremdartiges und exotisches Tier.
War es Einbildung, oder hatte er gerade durchblicken lassen, dass er Träume für echte Wesen hielt?
Herrgott, er konnte es doch nicht wissen. Oder doch? Der alte Mann im Drogeriemarkt hatte es auch gewusst. Stand es mir dick auf der Stirn geschrieben, und ich hatte es nicht gemerkt?
»Über Alpträume verarbeitet unser Unterbewusstsein oft Ängste und traumatische Erlebnisse.«
Er beugte sich vor, und ich tat es ihm gleich, fest entschlossen, mich weder einschüchtern zu lassen noch meine Angst zu zeigen. Dabei legte er es gar nicht darauf an, mich zu verängstigen, aber da war einiges, das er nicht aussprach – und das störte mich.
»Neulich nachts hatte ich einen dunklen Traum«, sagte er mit weicher Stimme. »In dem Sie vorkamen.«
Das überraschte mich. »Ich?« Er nickte. »Und was habe ich gemacht?«, fragte ich.
Er lächelte und verzog dabei die Lippen nur leicht, was seine Augen zum Leuchten brachte, doch ich wusste nicht recht, ob Wärme oder Argwohn darin lag. »Sie reichten mir die Hand.«
»Nun, da wir so eng zusammenarbeiten, ist so ein Traumbild nicht verwunderlich.«
Sein Lächeln verschwand. »Und dann haben Sie ein Messer gezogen und mir die Kehle aufgeschlitzt.«
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Kapitel 2
A ls ich später die Tür zu meinem Apartment öffnete, war ich in Gedanken noch immer bei Noahs Traum. Es musste einen Grund für diesen Traum geben – seine eigene Vertrauensproblematik, würde ich denken. Trotzdem machte mir das Ganze zu schaffen, besonders so kurz nach dem Erlebnis mit dem alten Mann im Drogeriemarkt.
Natürlich konnte ich mir alle möglichen Erklärungen zurechtlegen, um mich nicht völlig verrückt zu machen. Der alte Mann hatte bestimmt beobachtet, wie ich nach Feierabend aus der Schlafklinik kam, und das hatte wohl seinen kleinen … Ausbruch verursacht. Schließlich wusste er nichts von mir. Das konnte er auch nicht. Kein menschliches Wesen konnte das.
Ich musste aufhören, darüber nachzudenken. Es war nicht weiter wichtig, und den alten Mann würde ich schließlich nie wiedersehen. Ich warf meine Tasche auf den Boden und beschloss, das Ganze zu vergessen. Noah war zwar etwas anderes, aber um ihn würde ich mich kümmern, wenn seine Träume ihn wieder quälten.
Meine Wohnung war nichts Besonderes – klein, aber fein. Dank meines Dads, des Mannes, der mich großgezogen und der mir das Studium komplett finanziert hatte, war ich so gut wie schuldenfrei und konnte mir ein recht angenehmes Leben leisten. Da ich aber nicht gewillt war, mein ganzes Gehalt in die Miete zu stecken, hatte ich eine Mitbewohnerin – meine Freundin Lola. Ja, sie hieß wirklich so. Gemeinsam bewohnten wir ein hübsches Apartment in Murray Hill.
Und mit hübsch meine ich recht schlicht. Die Wohnung lag in einem Vorkriegsgebäude ohne Fahrstuhl im zweiten Stock, hatte zwei Schlafzimmer und eine Küche, die vom übrigen Wohnraum abgeteilt war, wofür wir sehr dankbar waren. Das Badezimmer war riesig und hatte eine große Wanne – ein ebenfalls mehr als glücklicher Umstand.
In der Küche saß mein Kater Fudge auf dem Tresen und wartete schon auf mich. Als ich die Plastiktüte neben ihm abstellte, reckte er neugierig seinen pelzigen, schwarzen Körper, um an der Tüte zu schnüffeln, und drehte sich dann mit einem lauten Maunzen zu mir um.
Während ich ihn fütterte, hörte ich die Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter ab.
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