Tochter des Glücks - Roman
genauso wenig, wie in einem der Kinopaläste, in denen May und ich uns in Haolaiwu verliebt haben, einen russischen Film anzusehen. Doch alle sollen vom Älteren großen Bruder lernen – Kunst, Wissenschaft und so weiter –, deshalb gibt es abends Russischunterricht aus dem Radio. Wenn wir danach noch Zeit haben, können wir uns politischen Studien widmen, Briefe schreiben oder Kleider flicken.
»Bevor du gehst«, sagt Dun, »wollte ich dich noch fragen, ob du mir vielleicht Englischunterricht geben könntest.«
»Englischunterricht? Wäre das nicht noch schlimmer, als eine Frau in deinem Zimmer zu haben?«
Er ignoriert meine Frage. »Deine Mutter hat mir erzählt, dass du früher Englisch unterrichtet hast. Ich habe englische Literatur studiert. Jetzt unterrichte ich die Literatur des Sozialismus und Kommunismus – Früchte des Zorns und solche Bücher. Leider ist mein Englisch nicht mehr so gut wie früher.«
»Warum ist das wichtig?«
»Weil es mir beim Unterrichten helfen wird und weil ich gerne ein guter Lehrer bin.« Er gestattet sich ein kleines Lächeln. »Und ich hoffe, eines Tages nach Amerika zu kommen.«
Ich sehe ihn skeptisch an. Wie sollte es ihm jemals gelingen, von hier wegzugehen?
»Träumen ist ja wohl erlaubt, oder?«, fragt er.
»Dann sagen wir doch Dienstag- und Donnerstagabend«, schlage ich vor. »Aber ohne Wein.«
J OY
Rote Gesinnung, geschickte Pinselführung
I ch sage dir doch schon die ganze Zeit, du sollst den Pinsel so halten, Deping«, mahnt Z. G. »Konzentriere dich! Deine Rübe sieht ganz anders aus als die auf dem Tisch. Sieh sie dir an! Sieh sie dir genau an! Was siehst du?«
Es fiel uns schwer, Z. G.s Ungeduld nicht zu beachten, aber selbst ich bin verzweifelt und enttäuscht. Vor ein paar Tagen wurden wir von Parteisekretär Feng Jin darüber informiert, dass er aus der Hauptstadt die Nachricht erhalten hat, unsere Zeit im Gründrachendorf sei vorbei. Z. G. und ich sollen morgen früh in Richtung Süden nach Kanton aufbrechen, wo irgendeine Messe stattfindet. Er ist froh, hier wegzukommen. Wir sind nun seit zwei Monaten hier, und die Dorfbewohner weigern sich immer noch, ihre Pinsel richtig zu halten. Sie ignorieren Z. G.s Anleitungen, wie viel Tusche sie mit dem Pinsel aufnehmen sollen, und die Bilder, die dabei herauskommen, sind recht unbeholfen.
»Alle sollten sich genau ansehen, was Tao gemalt hat«, sagt Z. G. »Er benutzt den Pinsel, um zu malen, was er sieht. Man kann die Wolken geradezu über den Himmel ziehen sehen. Man sieht , wie sich der Mais im Wind biegt. Man sieht eine Rübe!«
Wir alle wissen, dass Tao in eine andere Kategorie fällt als der Rest von uns. Er ist nicht auf schwarze Tusche beschränkt. Z. G. hat Tao (und vor Kurzem auch mir) einen Kasten mit Pastellfarben gegeben. Das Ergebnis sind satte, lebhafte Bilder, in denen die Grün-, Blau-, Gelb- und Rottöne sehr tief und leuchtend wirken.
»Wenn ihr euch sein Bild anseht«, fährt Z. G. fort, »fühlt ihr euch angeregt, aber auch beruhigt. Tao glaubt an das, was er malt, und er bringt uns ebenfalls dazu, es zu glauben.«
Tao richtet sich auf und strahlt vor Freude. Seine Kleider sind so oft gewaschen worden, dass sie von der Sonne und dem vielen Schrubben fast weiß gebleicht sind. Diese Farbe würde ich gerne in einem Bild heraufbeschwören können – die Blau- und Grautöne, die noch im Stoff verborgen sind.
»Nun wollen wir die Arbeiten meiner Tochter begutachten«, fährt Z. G. fort und wendet sich mir zu. Jetzt kommt … schon wieder … die übliche vernichtende Kritik. »Wie ihr wisst, arbeitet sie seit Längerem an einem Porträt unseres großen Vorsitzenden. Sie ist ihm nie begegnet, aber sie glaubt an ihn.«
»So wie wir alle«, ruft einer der Schüler.
»Als wir in eurem Dorf ankamen«, sagt Z. G., »war meine Tochter schwach in der Technik und hatte Angst vor dem Einsatz von Farben. Doch was ihr an Fertigkeit mangelte, glich sie durch ihre Begeisterung für das Neue China aus. Wer kann mir sagen, was an ihrem Porträt am besten gelungen ist?«
»Sie hat seinen Leberfleck nicht zu groß und nicht zu klein gemacht.« Das kommt von Deping, der für seine Rübe so arg kritisiert wurde.
»Mir gefällt sein blauer Anzug. Er sitzt perfekt«, fügt Kumei hinzu.
»Ja, und sie hat ihn ein bisschen dünner gemacht, als er wirklich ist«, fügt Z. G. schmunzelnd hinzu, und die anderen lachen mit.
»Hast du uns nicht gesagt, die beste Kunst preist Parteivorsitzende,
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