Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
er ihr versichert, er halte es eher für überraschend als dumm.
»Grüne Kraft?«, fragt er, als sie die Wiese überqueren, um nach einem der Schwerkranken zu sehen. Hildegard nickt.
»Alle Kraft stammt von Gott, Hildegard.«
Hildegard bleibt mitten auf der Wiese stehen. Sie wird rot im Gesicht, und Tränen steigen ihr in die Augen.
»Ich habe nie etwas anderes gesagt«, protestiert sie mit einer Heftigkeit, von der Volmar völlig überrumpelt wird. Er weiß nicht, was er sagen soll, faltet nur die Hände vor der Brust.
Im Krankensaal kniet Volmar neben einem Patienten. Der Kranke liegt mit dem Gesicht zur Wand, die Beine angezogen. Volmar kniet sich neben das Bett und legt eine Hand auf seinen Rücken. Der Kranke reagiert nicht. Der Bruder, der über die Kranken wacht, schüttelt den Kopf, und Volmar nickt zustimmend. Der Patient lebt, aber es ist keine Besserung zu erkennen. Es gibt nichts mehr, das sie tun können. Gottes Wille ist stärker als Volmars Wissen und all die Kräuter, die der Herr mit seiner heilenden Kraft versehen hat. Sie beten für den Kranken, und Volmar flüstert, es müsse nach dem Priester geschickt werden, damit der Mann die Letzte Ölung erhalten und beichten kann, sollte er des Sprechens noch fähig sein.
Die Luft ist schwer vom Gestank der Krankheiten und vom Rauch des Feuers. Es brennt in Hildegards Augen. Erst lachte Volmar über sie, dann ermahnte er sie. Obwohl sie weiß, dass sie nicht aufbegehren soll, ist es schwer, das Missverständnis zuertragen. Die himmelschreienden Tränen springen ihr wieder aus den Augen, und sie beeilt sich, sie wegzuwischen, bevor jemand sie bemerkt.
Volmar kniet bei einer anderen Patientin, und Hildegard stellt sich neben ihn. Volmars Hände sind schmal und glatt, so feine Männerhände hat Hildegard nie zuvor gesehen. Sie denkt an Hildeberts breite, raue Pranken. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände, als sie ein kleines Mädchen war, er roch nach Wolle und Schweiß. Er kniff sie in die Wangen und zog sie so fest an sich, dass sie keine Luft mehr bekam. Die Kranke ist aufgedunsen und erschöpft, sie sieht Hildegard mit großen, ängstlichen Augen an. Hildegard hört auf ihren Atem. Die Patientin wendet die Augen nicht von ihr ab, während Volmar sie untersucht. Die Kranke versucht, etwas zu sagen, wird aber von einem Hustenanfall unterbrochen. Ein süßer und fauliger Gestank umgibt die Patientin, und Hildegard dreht sich der Magen um. Ab und zu streift Volmars Blick Hildegard, ab und zu die Decke oder den Boden, lange, ferne Striche, die alles um ihn herum auslöschen. Hildegard streckt die Hand zu der Kranken aus. Die Hände der Frau zittern. Dann kniet sich Hildegard neben Volmar. Ihre Schulter stößt gegen seinen Arm, und er rückt von ihr weg.
Die Patientin soll mit mehreren Wolldecken zugedeckt werden, und während Hildegard die Decken fest um sie schlägt, muss sie den Atem anhalten. Volmar nimmt die heißen Steine entgegen, die ein anderer Bruder in Fell gewickelt bei der Feuerstelle abgelegt hat. Er erklärt Hildegard gewissenhaft, an welchen Stellen sie die Steine auf den Bauch der Frau legen soll, und hält selbst die Decken, während sie seinen Instruktionen folgt. Die Frau jammert schwach, und Volmar legt eine Hand auf ihre Stirn. Sie ist trocken und warm, aber bald sollte sie anfangen zu schwitzen. Volmar instruiert den anderen Bruder, wie er die Füße der Kranken mit einer Mischung aus Essig und Salz einmal pro Stunde einreiben und ihr die Stirn mit Rosenwasser kühlen soll. Sollte sich zeigen, dass die Schwitzkur keinen Effekt hat, müssen sie sie heute Abend zur Ader lassen, damit sie auf diese Weise die überschüssige Flüssigkeit loswerden kann.
Als sie wieder nach draußen kommen, kann Hildegard sich nicht länger zurückhalten. Mitten auf dem Pfad sprudeln die Worte aus ihr heraus, sie kann Volmar währenddessen nicht ansehen.
»Die grüne Kraft entspringt der Schöpfungskraft Gottes, sie singt in allem Lebendigen, sie bewegt das Gras und den Atem, sie ist Leben spendend und gesund und wird für das Auge in der Fruchtbarkeit der Natur sichtbar, für den Geist, wenn die Seele sowohl Lerche als auch Wolf ist, denn Gott erschafft sichtbare und unsichtbare Dinge. Diese Kraft existiert seit aller Ewigkeit, ist grün wie die Hügel am Disibodenberg, sie durchdringt alles und richtet das wieder auf, was verfallen und krank ist. Du kannst über meinen Eifer spotten, aber nicht mich dem Verdacht aussetzen, ich würde nicht
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