Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
sind nur ein paar wenige da. Geht man durch die Tür am hinteren Ende hinaus und schräg über eine Wiese, kommt man zu einem kleineren Gebäude, das die Abteilung für die Schwerkranken beherbergt. Gleich daneben sind die wohlhabenden Patienten untergebracht. Rechts vom Eingang führt eine Tür in einen ganz kleinen Raum, in dem nicht mehr als fünf Menschen Platz finden. Das ist der Ort für die Sterbenden, jedes Bett ist vom nächsten durch einenVorhang abgetrennt. Geht man stattdessen nach links, kommt man in die Abteilung für die wohlhabendsten und bedeutungsvollsten Kranken. Hier ist mehr Platz zwischen den Betten, es gibt Daunenmatratzen und feinstes Leinen. Die eigene Krankenabteilung der Brüder liegt gegenüber vom Infirmarium auf der anderen Seite des Klosterhofs. Der Kräutergarten liegt versteckt hinter dem kleinsten Gebäude der Ordensanlage. Obwohl der Garten bei der Wiedereinweihung des Klosters fürchterlich verkommen war und neu angelegt werden musste, war es nicht zu Lasten der großen Bäume gegangen, die außerhalb des Flechtzauns standen: Hainbuche, Quitte, ein junger Birnbaum mit einer großen und nützlichen Mistel in der Krone, zwei zylinderförmige Wachholderbäume und die Eberesche mit den vielen Früchten, die zwar keinen Schaden anrichtet, jedoch auch nicht von Nutzen ist.
Hildegard kann es kaum erwarten anzufangen. Obwohl Jutta es sich nicht so vorgestellt hatte, ist alle Unterweisung beendet, seit Hildegard ihre Klostergelübde abgelegt hat. Abt Kuno lässt sich Zeit damit, einen neuen Lehrer für das Mädchen zu finden, und Jutta drängt ihn nicht. Vielmehr drängt Kuno Jutta, mehr Pilger zu empfangen. Ein Tag in der Woche muss offengehalten werden für jedermann, der ihre Wegweisung oder Gebete braucht, ein zweiter muss reserviert werden für die Vornehmen, die mit ihren Adelstöchtern anreisen.
Es scheint Hildegard gutzutun, so viel Zeit im Infirmarium und im Kräutergarten zu verbringen, sie wirkt beherrschter, sie spricht weniger und fragt Jutta kaum noch etwas. Nur zweimal im Laufe des Herbstes wird Hildegard krank, und beide Male ist sie bald wieder auf den Beinen. Jutta denkt darüber nach, ob Hildegard immer noch Schauen des Herrn empfängt, fragt sie aber nicht. Die Schauen sind eine Gabe, und sie sollen wederheraufbeschworen noch unnötig ergründet werden. Vielleicht, denkt Jutta, hat der Herr ihr die Schauen auch gesandt, um Hildegard ihre wahre Berufung zu zeigen. Und jetzt, da sie ihre Gelübde abgelegt und sich mit dem einfachen Klosterleben abgefunden hat, sind sie nicht länger notwendig. Zwar kann sich Jutta nicht davon freisprechen, ab und zu darüber nachzugrübeln, warum das Mädchen so stark berufen werden musste und was Gottes Absicht dabei sein kann, doch schiebt sie die Gedanken von sich. Gottes Wege liegen im Dunkel, und es ist hochmütig zu glauben, man habe das Recht, seinen Atlas zu studieren.
Nach Weihnachten, während der Frost die Erde noch plagt, hat Hildegard genug gelernt, um neue Aufgaben im Infirmarium zu übernehmen. Während sie zuerst dafür sorgen musste, dass die Liegehalle sauber gehalten wurde, helfen musste, das Bettstroh zu wechseln, Decken zu lüften und für Getränke für die Kranken zu sorgen, erhält sie nun die Erlaubnis, die Brüder zu begleiten und an der eigentlichen Behandlung und Pflege teilzunehmen. Hildegard lernt schnell, und für ihre Schnelligkeit, die sowohl ihr selbst als auch Jutta so oft Qualen bereitet hatte, sieht sie hier niemand schräg an. Sie stellt gute Fragen und behält, was sie erzählt bekommt: Namen und Wirkung der Pflanzen, die gewöhnlichsten Krankheiten und die Lehre von der Ausgeglichenheit der Körperflüssigkeiten.
Der junge Mönch, dem Hildegard das erste Mal begegnete, als er und Abt Kuno mit der Kette und dem Büßerhemd kamen, teilt seine Tage zwischen Skriptorium und Infirmarium. Bruder Volmar hat in Salerno studiert, und sein Wissen ist nützlich für die Kranken, auch wenn Abt Kuno nicht alles, was sie in Salerno lehren, gutheißen kann. Hildegard hält sich in Volmars Nähe. Er kann ihre Fragen beantworten und nimmt sichZeit, ihr alles zu erklären, was sie wissen will. Jedes Mal, wenn er einen der Kranken untersucht, werden seine Bewegungen sanft, sein Blick fern. Hildegard betrachtet ihn, er gleicht einem Wesen geschaffen aus Luft und grüner Kraft. Der Ernst, mit dem sie ihm das sagt, bringt ihn zum Lächeln. Sie bittet ihn, ihr ihre Dummheit zu vergeben, und kann ihm nicht glauben, als
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