Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Eigenmächtigkeit des Mädchens. Sie sollte unter keinen Umständen selbst zum Abt gehen, sondern gehorsam warten, bis Kuno und Jutta gemeinsam einen passenden Lehrer gefunden haben. Hildegard lauscht stumm Juttas Anklagen, aber sie ist unerschütterlich. Jutta hat selbst gesagt, sie solle den bestmöglichen haben, und Volmar ist unbestreitbar der Belesenste von allen. Jutta schließt die Läden und zeigt sich über eine Woche lang nicht. Als sie das Gespräch wiederaufnimmt, ist Hildegard sich ihrer Sache so sicher wie niemals zuvor und sagt plötzlich, der Herr habe ihr Volmar gezeigt. In einer Schau wuchs Volmars Gestalt mitten aus Gottes rechter Hand. Jutta ist aufgebracht, wirft Hildegard vor, ungehorsam und falsch zu sein, da sie nicht gleich von ihrer Schau berichtet hat. Hildegard sagt nichts und senkt den Blick. Ihre Schauen stammen von Gott, das hat Jutta selbst eingeräumt, warumsollte es dieses Mal anders sein? Obwohl es Jutta irritiert, wagt sie nicht, dem Mädchen zu widersprechen.
Abt Kuno ist beunruhigt von dem Gedanken, eine junge Frau einem Mann anzuvertrauen, der nur wenige Jahre älter ist, aber auch er findet keine Argumente, die Hildegards Schau entgegenstehen könnten.
Es wird, wie Hildegard es wünscht, und zur Verblüffung des Abts sagt niemand etwas dazu. Nicht einmal der neu ernannte Prior, der ansonsten hart gegen jedes Anzeichen von Sünde vorgeht, hat etwas einzuwenden. Hildegard hat einen Sonderstatus, das spürt jeder, der ins Kloster kommt, auch wenn niemand es anders als mit ihrer Frömmigkeit und Begabung erklären kann. Die Schauen halten Jutta und der Abt immer noch geheim. Nur ein einziges Mal haben sie einen jungen Novizen dabei erwischt, wie er ihr Gespräch mithörte, aber er wurde so heftig zurechtgewiesen, dass er sich hüten wird, etwas zu verraten. Dennoch wundert es Jutta, dass so viele der Pilger, die zum Disibodenberg reisen, nach Hildegard fragen. Jedes Mal antwortet sie, das Mädchen sei andernorts beschäftigt, und jedes Mal sehen sie gleich enttäuscht aus. Eine Inklusin im Kloster zu haben ist eine Attraktion an sich, dass sie Gesellschaft von einer jungen Frau hat, sollte die Sache eigentlich nicht vergrößern. Abt Kuno hat auch keine Erklärung dafür. Es sind besonders die Adelstöchter, die nach ihr fragen, und Jutta, die ansonsten nur mit dem Wort des Herrn spricht, sieht sich gezwungen, geradeheraus zu fragen. Die Antwort ist jedes Mal dieselbe: Das Gerücht von dem sonderbaren Kind, das mit ins Kloster kam, geht durch das ganze Rheintal. Mehr erfährt Jutta nicht, und das wenige hilft ihr kaum weiter, denn es ist nichts Ungewöhnliches daran, ein Kind ins Kloster zu schicken.
Zu Hildegard sagt Jutta nichts und sorgt dafür, dass sie anden Pilgertagen außerhalb der Zelle ist. Sie sprechen fast nicht mehr miteinander, und obwohl Hildegards Schweigsamkeit Jutta peinigt, kann sie sie nicht dafür kritisieren, ihr den Frieden zu lassen, sich Gott hinzugeben.
Es überrascht Abt Kuno, dass Volmar über den Auftrag, Hildegard zu unterrichten, nicht verwundert ist. Hildegard folgt nicht den gleichen Regeln wie andere und hat mit ihm zuerst gesprochen. Als Kuno dies ihr gegenüber beanstandet, antwortet sie, sie habe Volmar keine Aufgabe zumuten wollen, gegen die er sich sträube. Sie habe zuerst mit ihm sprechen wollen, um zu erfahren, ob er die Verantwortung von Herzen auf sich zu nehmen wünsche oder es lediglich mit dem gleichen Gehorsam gegenüber dem Abt tun würde, wie er all seine anderen Pflichten erledigt.
Hildegard kann Volmar an den meisten Tagen begleiten. Im Infirmarium ist sie binnen kurzem die, mit der er diskutiert, welche Behandlung am besten für die schwerkranken Patienten geeignet ist, und bald kann sie selbstständig Diagnosen stellen und die richtige Kur finden. Hildegard ist nicht zufrieden damit, nur die Namen der Pflanzen und deren Wirkung zu lernen, sie fragt auch, woher er sein Wissen hat. Wenn er von den Schriften berichtet, die er in Salerno studiert hat, kann es ihr einfallen, nach den sonderbarsten und irrelevantesten Dingen zu fragen. Hast du beim Lesen gesessen oder gestanden? Wie groß war die Bibliothek? Wie viele Abschriften gibt es von Hippokrates' wichtiger Abhandlung »Von der Atemluft«? Wie kann man wissen, dass alle Abschriften genau gleich sind?
Er antwortet geduldig, denn obwohl sie eine junge Frau ist, hat sie die ungeduldige Neugierde eines Kindes. Manchmal sieht sie ihn lange und forschend an oder stellt ihm
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