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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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anderen, die von deiner Fähigkeit wissen, so sprechen sie doch über dich«, sagt Volmar und steht auf.
    »Wer spricht?« Hildegard bleibt sitzen.
    »Die Novizen, die Brüder, die Reisenden, die Pilger, die Kranken. Immer wieder spricht einer von deiner Frömmigkeit und deinen Schauen. Manche kommen nur, um dir zu begegnen, Hildegard, um in der Nähe der Jungfrau zu sein, die Gott so sehr zu lieben scheint, dass er sie zu seinem Sprachrohr gemacht hat.«
    »Ich brauche deinen Rat«, ihre Stimme verschwindet beinahe, »ich weiß nicht, was ich tun soll.«
    »Ich bin nicht sicher, ob du den Richtigen fragst«, antwortet Volmar.
    »Das tue ich.« Sie betont jede Silbe.
    »Dann kannst du mit mir darüber sprechen, sooft du willst«, sagt er, »etwas anderes können wir nicht tun, wenn der Abt und Jutta dir zum Schweigen geraten haben.«
    »Mir Schweigen auferlegt haben«, flüstert sie.
    »Zu deinem eigenen Besten«, antwortet er und hebt warnend einen Finger.
 

 

18
      
Sich Volmar anzuvertrauen war eine natürliche Folge ihrer Freundschaft, spürbare Erleichterung brachte es Hildegard allerdings nicht. Volmar fragt nicht von sich aus, hört aber gerne zu, wenn sie spricht. Es ist genau so, wie Hildegard es wünscht,und das weiß er, ohne dass sie es sagen muss. Weder Jutta noch irgendjemand anderer wagt es noch, ihre Freundschaft zu kommentieren. Sie sind ein Behälter mit einem dicht schließenden Deckel, von außen betrachtet stets eins.
    In dem Sommer, in dem Hildegard zwanzig wird, versucht Volmar mit dem Abt über Hildegards Schauen zu sprechen. Ob es angemessen sei, sie verborgen zu halten. Aber dabei kommt nichts Neues heraus. Der Gedanke daran, wie die Welt reagieren würde, lässt den Abt zurückhaltend bleiben. Kuno kennt Hildegard und ihre Frömmigkeit, aber das tun die Menschen außerhalb vom Disibodenberg nicht, und niemand kann sicher sein, dass sie ihr glauben werden. Im besten Fall werden sie sich über sie lustig machen, im schlimmsten Fall sie verurteilen, und das würde nicht nur sie, sondern das ganze Kloster in Verruf bringen. Kommt es dem Erzbischof zu Ohren, wird er gezwungen sein, eine Untersuchung anzustrengen. Und obwohl er selbst nicht erkennen kann, dass Hildegard irgendeinen Schaden anrichtet, ist er nicht sicher, dass die Männer des Papstes es ebenso sehen. Die Beurteilung, ob sie vom Teufel besessen ist, wäre eine Sache, denn der Teufel kann mit dem Kreuz ausgetrieben werden. Eine ganz andere Sache wäre, wenn sie aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden würde. Eine Exkommunikation darf man nicht leichtnehmen, denn dann wäre Hildegards Seele verloren. Solange der Abt die Gerüchte nicht öffentlich bestätigt, Hildegard besitze die Kraft der Seherin, kann alles so weitergehen wie gewohnt. Volmar ist entsetzt darüber, Abt Kuno so reden zu hören. Der Teufel und Hildegard. Kein Pakt könnte ihm unwahrscheinlicher vorkommen.
    Volmar hoffte irrtümlicherweise, die Schauen würden weniger werden, wenn Hildegard reifer wäre. Doch als sie zweiundzwanzig ist, kommen sie häufiger als je zuvor. Hildegard versucht festzustellen, ob es ein Muster gibt, wann sich ihr ›Das Lebende Licht‹ zeigt, aber es folgt augenscheinlich seinem eigenen, unvorhersehbaren Rhythmus. Das Einzige, was sie mit Sicherheit weiß, ist, dass sie jedes Mal nach einer besonders klaren Schau krank wird. Mit der Zeit folgen dem Fieber unerklärliche und schmerzhafte Lähmungen in Füßen und Beinen, die ihr Angst machen, aber nach einigen Tagen im Bett stets wieder abnehmen und sie bislang ohne Schaden zurückgelassen haben. Volmar sieht nach ihr, wenn sie krank ist, aber er hat aufgehört, nach einer Kur zu suchen. Er betet für sie und verabreicht ihr den Sud abgekochter Gerste und Birkenrinde gegen das Fieber, in Wein gekochte Ambra, um die unreinen Flüssigkeiten auszutreiben.
    Vorahnungen, Anzeichen und Bilder aus der Vergangenheit treten manchmal als kurzzeitige, plötzliche Eingebungen auf, andere Male als hellwache Schauen, doch nie begleitet von ›Dem Lebenden Licht‹. Obwohl sie oft von Angst gepackt wird vor dem, was sie gesehen hat, ist sie niemals ängstlich, solange es andauert. Sie ist erfüllt von einem unerklärlichen Gefühl der Gewissheit davon, kurzzeitig Zugang zu Zusammenhängen zu haben, die den geheimnisvollen Gesetzen des Herrn unterliegen. Es geschieht fast immer an Tagen, an denen die Welt besonders lärmt, an denen Farben strahlen und kreischen, Stoff kratzt, die

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