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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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geradeheraus Fragen über den menschlichen Körper und die Fortpflanzungsorgane. Es scheint nicht so, als entsprängen ihre Fragen unzüchtigen Gedanken, und Volmar versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Er hat sich nicht mehr in der Nähe von Frauen befunden, seit er vor zehn Jahren das Zuhause seiner Kindheit verließ, und das ist nun inzwischen die Hälfte seines Lebens. In diesen Jahren hat es Versuchungen und Prüfungen gegeben, aber die Verlockungen des Fleisches haben nicht sehr viel Raum eingenommen. Nachdem er sich an die Einsamkeit und die Trennung von seinen Eltern und Geschwistern gewöhnt hatte, folgten einige ruhige Jahre. Jetzt muss er wieder beichten und Buße tun, um sein Fleisch von Lust und Gedanken an Sünde zu reinigen.
 
    Mittlerweile kann Volmar Hildegards Gesicht entschlüsseln. Es ist eine Sprache, die nicht weniger kompliziert ist als die Grammatik, die er sie lehrt. Wenn sie nicht so große Anstrengungen unternehmen würde, in wahrhafter Demut zu leben, sich zu beherrschen und zu verbessern, würde sie fürchterlich launisch sein. Jetzt registriert er ihre Stimmungsschwankungen in den kleinen Details, die andere nicht bemerken: Die Art, auf die sie fortwährend ihre Locken unter dem Kopftuch zurechtrückt, wenn sie nervös ist, ein besonderer Zug um den Mund, die ausgelassene Freude, die ab und zu in ihrem Blick aufflackert. Am schwersten fällt es ihr, ihre Wut zu zügeln, und sie vertraut Volmar an, dass sie diese Schwäche jedes Mal mit in die Beichte nehmen muss.
    Er erklärt ihr die vier Temperamente – cholerisch, phlegmatisch, melancholisch, sanguinisch –, und ihr fällt es schwer, davon abzulassen. Sie fragt ihn mehr, als er beantworten kann. Ja, das Temperament eines Menschen zeigt sich sowohl in seinem Körperbau als auch in seinem Gemüt. Nein, Tiere habenkeine Temperamente gleicher Art. Ja, das Temperament bestimmt zum Teil das Verhalten eines Menschen. Nein, selbstverständlich kann ein jeder sich im Leben mit Gott verbessern, und nein, er weiß nicht, warum Gott es vorgezogen hat, die Menschen auf diese Weise zu erschaffen. Lange danach kann es ihr einfallen, darauf zurückzukommen, mit neuen Fragen, die für ihn schwierig zu beantworten sind: Welches Temperament eignet sich für das Klosterleben am besten? Ist es vorzuziehen, dass in einer Ehe Mann und Frau das gleiche Temperament haben, oder ergibt sich ein besseres Gleichgewicht, wenn sie verschieden sind? Manchmal bittet er sie um ein wenig Ruhe, aber auch wenn ihre Gesellschaft beschwerlich sein kann, ist sie ihm nie lästig. Obwohl Hildegard eine Frau ist, kann er mit ihr über geistige und wissenschaftliche Themen reden, die er nie mit einem Ebenbürtigen seines Fachs besprochen hat. Selbst wenn sie nicht zusammen sind, denkt er an sie. Er denkt daran, was er nicht vergessen darf ihr zu erzählen, daran, was sie noch nicht gelernt hat. Immer öfter aber denkt er daran, worüber er gerne mit ihr sprechen und wozu er ihre Meinung hören will.
    Im Laufe des ersten Jahres lernt Hildegard mehr, als Volmar zu hoffen gewagt hätte. Nach und nach nimmt die Unterweisung mehr den Charakter von Gesprächen an. Hildegard untersucht alles, was sie sieht und hört, und fügt ihre Beobachtungen in neuen Betrachtungen zusammen. Sie ist überzeugt davon, dass die Kenntnis der Temperamente für sehr viel mehr Dinge von entscheidender Bedeutung ist, als Volmar sich vorstellt. Sie analysiert das Temperament der Patienten, indem sie deren physisches Erscheinungsbild und deren Symptome beobachtet und ihre Behandlung eifrig mit Volmar diskutiert. Manchmal regt sie sich heftig auf, wenn einer, von dem sie geglaubt hatten, er werde überleben, dennoch stirbt, andere Male nimmt sie es mit erhabener Ruhe hin.
    Als es wieder September wird, ist es ein Jahr, dass Hildegard von Volmar unterrichtet wird. Sie ist mehrere Tage lang ungewöhnlich still und verschlossen. Als Volmar den Faden eines Gesprächs wiederaufnehmen will, das sie wenige Tage zuvor geführt hatten, wirkt sie unkonzentriert und gleichgültig. Sie sitzen einander gegenüber im leeren Lesesaal. Sie kratzt sich nervös am Hals und am Handrücken.
    »Ich weiß nicht, warum ich dich nie um Vergebung gebeten habe«, ruft sie aus und bohrt einen Nagel in die Ecke der Wachstafel.
    »Für was, Hildegard?« Volmar ist an ihren sprunghaften Gedankengang gewöhnt und daran, dass sie oft mitten in einem Zusammenhang beginnt, ohne sich die Mühe zu machen, ihn darüber zu informieren,

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