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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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Grütze die Zunge verbrennt, das Brot einen Beigeschmack hat, den andere nicht schmecken können. An diesen Tagen ist Hildegards Verstand wie eine Blase, die spannt und schmerzt und endlich zerplatzt. Dann ergießt sich die klare Materie quer durch die Zeit, lässt im Bruchteil einer Sekunde Lichtblitze von zukünftigen oder vergangenen Ereignissen vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Oft sind es kleine, unbedeutende Dinge, die sie sieht: einen Reiter mit einem wichtigen Brief für den Abt, eine Kuh, die zwei Kälber auf einmal bekommt, das Gebüsch, in dem das rot gefleckte Huhn seine Eier versteckt. Andere Male sind die Schauen beunruhigend: dass einer der Brüder krank werden wird und absolut keine Bohnen und Nüssen zu sich nehmen darf, dass ein anderer bald stirbt und ein dritter nach einem scheinbar harmlosen Fieber plötzlich das Augenlicht verliert, dass ein Sturm die Trauben vom Stock reißen wird, wenn sie nicht eine Woche vor der Zeit damit beginnen, sie zu pflücken. Anfangs vertraut sie sich ergeben sowohl Jutta als auch Volmar an, aber nach und nach schweigt sie in der Regel und spricht nur mit Volmar, wenn die Schau eine Warnung in sich trägt.
    Weder sie noch Volmar können etwas gegen unerwarteten Tod oder plötzliche Krankheit tun. Sie bittet Gott, ihr zu erklären, warum sie all das sehen soll, wenn daraufhin keine Weisungen folgen, wie sie den Schmerz lindern kann. Aber Gott ist die meiste Zeit über still. Er ist bei ihr, in Psalmen, die nach der Lesung der Benediktusregel auftauchen, in neuen Melodien, die ihre Finger plötzlich dem Psalterium entlocken, in Gleichnissen, über die sie meditiert und die sich zu einem Reichtum an Bildern verwandeln.
    Nur in ›Dem Lebenden Licht‹ hört sie Seine Stimme, aber die Antworten, die sie bekommt, sind nie Antworten auf die gleichgültigen und selbstsüchtigen Kleinigkeiten, mit denen sie ihren Verstand quält. Im Licht ertönt die Stimme vom Gipfel des Himmelsbergs, sie spricht für alle Menschen und strömt über die Bergseiten hinab. Hildegard ist wie ein ausgetrocknetes Flusstal, das sich mit tosendem Schmelzwasser füllt, das Leben spendet und ihren eigenen Willen auslöscht.
 
    Vogelkrallen fahren kreischend über einen Himmel aus Quarz, bei dem Geräusch stellen sich die kleinen Härchen auf. Es ist kurz vor Lichtmess, und der Wintermond steht dicht über dem Tal, schwankend hängt er an Ketten aus Frost unter dem schwarzen Himmelsgewölbe. Das Mondlicht ist Kalk, das kleinste Ding wirft einen Schatten aus Tinte. Hildegard steht im Innengarten und blickt auf die Sterne: Das Wintersechseck mit dem Hundsstern, der so klar leuchtet, mit Fuhrmann, Orion, Großer Hund. Die Frostnacht hat keinen Gesang, nur einen gedämpften Ton, schwarzgrün und murmelnd. Es ist, als würde sie geschubst und rücklings fallen, und sie muss sich auf die von Raureif bedeckte Bank setzen, wo die Kälte gleich durch Kleid und Umhang dringt. Der mächtige Schnabel eines Falken taucht durch die Wolken, gelb und scharf, zerteilt die Nachtfinsternis, der Mond färbt sich blutrot. Sie denkt nur selten an Clementia, aber sie weiß sofort, dass es um ihre Schwester geht. Sie sieht sie in einem Blitz, versteinert vor Kummer, sieht Gerbert einen schneebedeckten Hang hinunterrollen, sein Körper zieht eine schwarzrote Spur hinter sich her. Ein Aufleuchten, und dann sind sie fort. Hildegard presst die Fingerknöchel auf die Augen. Sie muss sofort mit Volmar sprechen.
    Volmar schreibt etwas auf ein Stück Tierfell, Pergament, das einmal der Schutzschild eines Kalbs, eines Schafs, einer Ziege gegen die Welt war, nun aber in quadratische Vierecke geschnitten und mit Bimsstein geglättet zum Schreiben benutzt wird. Er schreibt mit einem Gänsekiel und aus Kräutern gemachter, mit Apfelextrakt der Gallwespe durchsetzter Tinte. Vor ihm stehen Fässchen mit roter und schwarzer Tinte. Er hat sich vorgenommen, ein Manuskript fertigzustellen, und wenn es ihn den nächtlichen Schlaf kosten sollte. Die Unterweisung Hildegards und die Pflege der Kranken lässt nicht viel Zeit fürs Schreiben, aber mit einem Halbkreis flackernder Lichter geht es, obwohl seine Augen brennen und tränen und dem Prior so viel Feuer im Skriptorium gar nicht behagt. Es sind die ruhigsten Stunden des Tages und der Nacht. Keine Schritte oder Glocken, keine Tiere, die blöken oder gackern oder krähen.
    Uda sollte besser über Hildegard wachen, aber sie ist alt und schläft tiefer als ein Säugling. Es ist falsch von

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