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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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Hildegard, mitten in der Nacht zu ihm zu kommen. Sie schleicht sich an wie ein Dieb, er hört nicht einmal, wie die Tür aufgeht, bemerkt sie erst, als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt ist. Erschrocken fährt er hoch, spritzt rote Tinte auf die Seite, die er gerade begonnen hat, die Arbeit ist ruiniert. Seine erste Eingebung ist, sie anzuherrschen, aber bevor er ein Wort sagen kann, wirft sie sich vor ihm auf die Knie und packt seine Kutte. Er tritt einen Schritt zurück, aber sie hält fest, knüllt den schwarzen Stoff zwischen ihren Händen zusammen, versucht, ihr Gesicht zu bedecken. Er hat sie schon früher vor Wut weinen sehen, sie aber nie so verzweifelt erlebt. Ihr helles, gequältes Gesicht und ihr entsetzter Blick bremsen seinen Zorn, und er reicht die Hand zu ihr herunter, um ihr aufzuhelfen. Er streift ihre Stirn und die nassen Wangen, ihre weiche und warme Haut. Sie lässt die Kutte los, packt stattdessen seine Hand, drückt sie so fest, dass es weh tut, presst sie heftig gegen ihre Lippen. Volmar ist bestürzt über ihre wortlose Haltlosigkeit. Er hat so verbissen gegen die Sünde gekämpft, die sich in seinem Fleisch einnisten will, gegen den Teufel, der ihn mit nächtlichen Bildern von Hildegards seltenem Lächeln und ihrer weichen, zerbrechlichen Glieder locken wollte. Jedes Mal hat ihm Gott den rechten Weg gewiesen, hat ihn wieder auf den Pfad der Tugend geführt, zumal Hildegard unzüchtige Gedanken vollkommen fremd sind. Aber jetzt wirft sie sich ihm zu Füßen, außerstande,sich zu kontrollieren, und er fürchtet, die Schlange habe Besitz von ihr ergriffen und sie sei gekommen, um ihn in Versuchung zu führen.
    »Du musst mir helfen«, fleht sie, und seine Hand wird nass von Atem, Tränen, Rotz.
    »Steh auf, Hildegard!«
    »Wir müssen einen Brief schreiben«, redet sie einfach weiter, als höre sie nicht, was er sagt.
    »Um Himmels willen, steh auf, Hildegard«, ruft er und reißt seine Hand weg. Hildegard fällt vornüber, liegt auf allen vieren vor ihm. Die Scham, sich über die Absicht ihres Erscheinens geirrt zu haben, pocht in seinen Schläfen. Verwirrt und benommen fängt er an, Tintenflecke vom Tisch zu wischen. Er schabt und schabt mit dem Rasorium über das Pergament, obwohl deutlich zu sehen ist, dass es nicht zu retten ist. Pergament ist kostbar, und er kann sich nicht erlauben, es zu vergeuden, wenn der Abt und der Kantor Calligraphicus akzeptieren sollen, dass er seine Nachtruhe opfert und Lichter anzündet, um zu kopieren.
    Hildegard bleibt auf den Knien liegen.
    »Einen Brief?«, schnaubt er und schüttelt den Kopf. Das Rasorium durchstößt den Bogen, ein sternförmiges Loch. »Du kommst mitten in der Nacht, weil du willst, dass ich einen Brief schreibe?«
    Hildegard sagt nichts. Sie vergräbt das Gesicht in den Händen, und ihre Beschämung stimmt ihn ein wenig milder. Seine Hände kommen zur Ruhe, er reinigt das Messer und den Kiel und faltet den ruinierten Bogen zusammen. Sie sitzt zusammengesunken da und weint.
    »Hildegard, hör zu«, setzt er an. Zuerst wirkt es nicht, aber er fährt fort, mit beruhigenden und tröstenden Worten zu ihrzu sprechen, bis sie die Hände sinken lässt und ihr verweintes Gesicht zeigt.
    Sie steht auf, klammert sich am Schreibpult fest.
    »Wirst du für mich schreiben, Volmar?«, fragt sie und sieht auf seine Hände. Die weinrote Tinte ist eingetrocknet und gleicht blutunterlaufenen Malen. Er spuckt auf den Handrücken und versucht, sie mit dem Daumen abzureiben.
 
    Er wird den Brief sowieso schreiben, das hätte er sich gleich denken können. Hildegard weint nicht mehr, sondern erzählt gewissenhaft, was sie gesehen hat.
    »Eines von Gottes Kindern kann vielleicht gerettet werden«, sagt sie, und ein Menschenleben ist wichtig genug, um sie beide wach zu halten. Graf Gerbert muss gewarnt werden, und obwohl Volmar mehrere Male den Kiel weglegt und den Kopf über die Nutzlosigkeit der Warnung schüttelt, besteht sie darauf, dass er fortfährt. Sollen sie Graf Gerbert verbieten, auf Falkenjagd zu reiten, solange die Erde schneebedeckt ist? Und gilt es nur diesen Winter oder auch den nächsten? Hildegard beschwichtigt ihn und breitet verärgert die Hände aus.
    »Was soll ich darauf antworten?«, faucht sie. »Sind die Schauen, die der Herr mich sehen lässt, gleichgültig? Sollen du und ich darüber bestimmen? Ob Gott Gerbert wohl nicht wissen lassen will, was er tun soll?«
    Daraufhin schweigt er und schreibt den Brief zu Ende. Es sind

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