Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
nur wenige Zeilen, und obwohl es gegen die Regeln verstößt, besteht Hildegard darauf, dass er vor dem Absenden versiegelt wird. Als Volmar Einwände vorbringt, sagt sie nur, dass nicht sie sich für das Schweigen entschieden habe. Es wurde ihr auferlegt, er selbst habe beigepflichtet, es sei zu ihrem eigenen Besten. Wenn sie einen offenen Brief abschickt, in dem siedie Gabe der Seherin unverhohlen beschreibt, könnte sie es den Boten gerade so gut auf dem Marktplatz jeder Stadt verkünden lassen, durch die ihn sein Weg führt. Dennoch ist sie gezwungen einzuwilligen, den Abt den Brief vorher sehen zu lassen. Volmar muss ihr versprechen, ihn Kuno sobald wie möglich zu zeigen.
Volmar kann nicht schlafen. Er reibt und reibt an den Tintenflecken, bis die Haut wund wird. Anschließend badet er die Hände mehrere Male in eiskaltem Wasser. Das meiste verschwindet, aber eine Kette aus Flecken, die dem Biss eines Menschen ähneln, kann er nicht wegbekommen.
Abt Kuno ist nicht wohlwollend gestimmt und ist dagegen, den Brief abzuschicken. Volmar gibt nicht so leicht auf. Auf seine übliche bescheidene Art fragt er, wie er es Hildegard erklären soll. Er bittet den Abt, ihm den Weg aus dem Dilemma zu weisen, die Stimme des Herrn zu überhören. Kuno stöhnt. Einmal ist es Jutta und ihre fanatische Askese, die ihm Schwierigkeiten bereitet, dann wieder Hildegard. Ganz gewiss wäre das Kloster nicht so rasch wieder errichtet worden und nicht so reich, hätte es nicht Juttas und Hildegards großzügige Mitgift bekommen und würden ihre Familien nicht weiterhin mit großherzigen Gaben für sie Sorge tragen. Obwohl das Kloster allmählich selbstversorgend ist, kann er sich nicht vorstellen, wie sie die Mittel auftreiben sollten, die Kirche fertigzubauen, ganz zu schweigen von ihrer Ausgestaltung, wenn nicht die Pilger zur Ökonomie des Klosters beitragen würden. Der Wein in der Gegend um den Disibodenberg wächst gut, aber sie sind erst seit kurzem in der Lage, mehr zu produzieren, als sie selbst brauchen. Außerdem kann die Weinernte missraten, Mäzene können sterben, und es braucht nicht mehr als einen kleinen Brand oder kleinere Sturmschäden, um die Reserven aufzuzehren, die Kuno angesammelt hat. Solange nur vage und unbestätigte Gerüchte über Hildegard im Umlauf sind, kann sie Pilger anziehen, ohne dass der Klosterfrieden beeinträchtigt wird. Er ist sich mit Jutta einig, dass Hildegard noch zu jung ist, um Pilger zu empfangen, aber das hindert die Kranken im Infirmarium nicht daran, nach ihr zu fragen. Viele, besonders Frauen, sind davon überzeugt, dass die Behandlung am wirkungsvollsten ist, wenn Hildegard ihnen vorsteht. Aus seiner Sicht sind es nicht weniger und nicht mehr, die am Disibodenberg gesunden, seit Hildegard Dienst unter den Kranken tut, obwohl niemand bestreiten kann, dass sie tüchtig ist in allem, was sie tut. Aber Hildegards besondere Gabe bringt den Abt auch in Verlegenheit. Wenn er sagte, er glaube nicht, dass Hildegards Schauen von Gott kommen, wäre dies im Großen und Ganzen gesehen so, als würde er einräumen, den Engel des Satans zu beherbergen.
Kuno hat Vertrauen zu Volmar. Seit er zum Kloster kam, hat er ihn mit seinem demütigen und gehorsamen Wesen erfreut und sich niemals aufgespielt. Gibt es Streitigkeiten unter den Mönchen, hat es immer einen beruhigenden Effekt, Volmar als Vermittler einzusetzen. Ist er im Zweifel über das Strafmaß für die Verfehlungen unter den Brüdern, ist es stets Volmar, den er um Rat fragt. Aber jetzt steht er hier, mit seinen schwarzen Augen, die dem Blick des Abts ausweichen, aber genauso beharrlich auf dessen Rücken brennen, wenn er sich abwendet. Er bleibt einfach stehen mit seinem versiegelten Brief. Diesem törichten Brief, der eine kinderlose Schwester, die Hildegard nicht mehr gesehen hat, seit sie ein kleines Mädchen war, vor dem Tod ihres Ehemanns warnt. Und als sei das an sich nicht schon töricht genug, wohnen die Schwester und ihr Graf Gerbert obendrein auch noch mehrere Tagesreisen entfernt.
»Was, wenn es schon geschehen ist?«, fragt Kuno mit dem Rücken zu Volmar.
»Das weiß ich nicht.«
»Was, wenn es nicht die Zukunft ist, die sie gesehen hat, sondern die Gegenwart oder gar die Vergangenheit?«
»Ich weiß nichts anderes als das, was Hildegard mich zu sagen gebeten hat.«
»Das ist ein Problem«, sagt Kuno und setzt sich an den Tisch. Er winkt Volmar zu sich, aber entweder sieht er es nicht oder er ist ungehorsam, jedenfalls
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