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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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bleibt er direkt vor der Tür stehen.
    »Graf Gerbert?«, fragt er.
    »Ja, Graf Gerbert von Aachen.«
    »Ein gottesfürchtiger Mann?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Hm.«
    »Aber Gott will offenbar seine Hand über ihn halten, wenn er Hildegard eine solche Schau sehen lässt. Ob der Herr einen Zweck mit dem Grafen verfolgt?«
    Kuno sieht auf. Volmar erwidert seinen Blick, anstatt die Augen zu Boden zu richten, und Kuno versteht: Diese Schwester Clementia wird Hildegards Warnung fürsprechen, aus Angst, ihren Mann zu verlieren, oder weil sie die besondere Fähigkeit ihrer Schwester kennt. Wenn dem Grafen nicht bereits etwas zugestoßen ist, wird sie ihn im besten Fall überzeugen können, dass er aus großer Gefahr errettet wurde, und er wird seine Dankbarkeit vermutlich in Form von Geschenken an das Kloster Disibodenberg zeigen. Kuno kratzt sich das kahle Haupt, er räuspert sich, hustet, sieht aus dem Fenster. Volmar steht unbeweglich da und betrachtet den unebenen Boden.
 
    Es kommt genau so, wie Kuno es gehofft hat. Obwohl er es vorgezogen hätte, wenn Graf Gerbert dem Kloster Land oder Besitztümer hätte zukommen lassen, ist es doch ein schöner Seitenaltar, den er in der Kirche errichten lassen wird. Volmar erhält die Erlaubnis, Hildegard Graf Gerberts Antwortbrief vorzulesen, und sie lauscht konzentriert seiner Danksagung. Er hatte gerade eine größere Jagdgesellschaft geplant, die, wenige Tage nachdem er den Brief erhielt, stattfinden sollte. Die Gäste waren bereits auf seiner Burg angekommen, und zunächst – das räumt er gerne ein – war er verärgert über den merkwürdigen Brief der Schwägerin, die er zuletzt in Bermersheim gesehen hatte, als sie noch ein Kind war. Da die Erde nicht wie in ihrer Schau von Schnee bedeckt war, entschied er, die Jagd dennoch durchzuführen, auch wenn Clementia, die ihrer kleinen Schwester blind vertraute, ihn anflehte, davon abzulassen. An dem Tag, an dem die Jagd beginnen sollte, ging er nach der Morgenmahlzeit hinunter, um nach den Falken zu sehen und eins der Tiere auszuwählen. Er war gerade erst auf den Hofplatz getreten, als es zu schneien begann. Erst hatte er es als einen unbedeutenden Schauer abgetan, aber im nächsten Augenblick war die Luft von großen, weißen Flocken erfüllt, und als er sein Gespräch mit dem Falkner beendet hatte, war die Erde bereits von einer feinen Schneeschicht bedeckt. Er hatte keinen Zweifel: Die Jagd musste abgesagt werden. Zunächst überlegte er, den Rest der Jagdgesellschaft auf eigene Faust losziehen zu lassen, um seine Gäste nicht zu enttäuschen, aber Clementia riet ihm, auch dies nicht zu tun, und er hörte auf sie. Er hatte es erklärt, wie es war: Hildegard habe seit ihrer Kindheit Schauen gehabt, und nun habe sie ihm ihre Warnung vom Disibodenberg bis hierher zukommen lassen.
    Hildegard seufzt, und Volmar liest weiter. Sie nickt geistesabwesend, als er zu dem Absatz über den Seitenaltar kommt, kommentiert ihn aber nicht. Nachher wirkt sie zunächst erleichtert, dann ängstlich bei dem Gedanken daran, wie die Jagdgesellschaft wohl auf Gerberts Bescheid reagiert haben mag. Volmar denkt das Gleiche, begnügt sich aber damit, festzustellen, dass sowohl die Schau als auch der Brief seine Bedeutung hatte und sie also davon ausgehen können, dass es auch so sein sollte, dass der Graf sein Wissen mit seinen Gästen teilte. Hildegard sieht ihn an, ohne etwas zu sagen. Ihr Gesicht ist blank wie die Schneide eines Messers, sie reibt sich das Ohrläppchen, bis es rot wird. Dann lächelt sie plötzlich groß und breit. So lächelt Hildegard selten, und Volmar freut sich.
 
    Graf Gerberts Altar soll aus goldenem Sandstein gemeißelt werden, ein schwerer und unornamentierter Tisch in der Seitenkapelle schräg gegenüber Juttas und Hildegards Gitterfenster. Die Rückwand soll mit einer Malerei verziert werden, und Graf Gerbert hat einen Meister aus Köln rufen lassen, der zum Disibodenberg reist, sobald der Frost aus der Erde ist. Er hat seine zwei stiernackigen Söhne dabei und staucht sie von morgens bis abends zusammen. Hildegard verfolgt den Fortgang der Arbeit von ihrem Fenster aus – im Laufe des Tages wachsen Finger und Augen und Blumen in klaren Farben. Gleich hinter der Stelle, an der der Altar aufgestellt werden soll, wird ein Bild des heiligen Eustathius, dem Schutzheiligen der Jäger, aufragen. Er kniet vor dem Kronenhirsch, der ihm während einer Jagd erschienen ist. In dessen Geweih strahlte ein Kreuz, und eine

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