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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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hört sie nun die Schlange zu sich sprechen: Meine Macht ruht auf des Menschen Empfängnis. Auf diese Weise wird er mein Eigentum. Im Schoß der Frau werde ich meine Herrschaft wiedererrichten, mein Gift verbreiten, das sich in die ganze Menschheit fortpflanzen wird.
    Hildegard starrt auf die Wand, während die Schau verschwindet. Sie hat keine Angst. Eva ließ sich durch die Rede der Schlange verführen, sie wollte ihre eigene Herrin sein und Gott den Rücken kehren. Hildegard beugt den Kopf. Sie versteht. Sie muss sich mit allen Kräften dagegen stemmen und ein Teil von Gottes Heilsvorsehung werden. Er lässt seine Menschenkinder nicht im Stich, er siegte über den Sündenfall, indem er seinen Sohn im Schoß einer Jungfrau zur Welt kommen ließ. Sie muss geduldig darauf warten, dass Gott ihr zeigt, was sie tun soll. Sie muss passiv sein wie eine Feder, die sich vom Fluss treiben lässt.
 

 

22
      
Die schwangere Frau kam spätabends zum Disibodenberg und hat seitdem kein Wort gesagt. Erst als sie aufwacht und entdeckt, dass Hildegard an ihrem Bett sitzt, bricht sie in Tränen aus. Sie heißt Margreth von Schmie, ist fünfzehn Jahre alt undunverheiratet. Sie erklärt Hildegard, dass ein Freund der Familie sich an ihr vergangen habe. Sie stammelt und bringt die Worte kaum heraus, als Hildegard sie nach einigen weiteren Dingen fragt. Hildegard hat keinen Zweifel, dass sie die Wahrheit sagt. Das Mädchen ist aus guter Familie, ihr Bruder hat sie hergebracht, er selbst übernachtet in der Gästeherberge. Margreth hatte von Hildegards Frömmigkeit und ihrer Heilkunst gehört und weigerte sich rundweg, sich von jemand anderem untersuchen zu lassen. Der Täter hat der Familie eine Mitgift bezahlt, nachdem unübersehbar wurde, dass sie schwanger war, und da er gewillt ist, das Mädchen zu heiraten, sollte das Problem gelöst sein. Obwohl die Aussicht, das Kind nicht außerehelich gebären zu müssen, Margreth eigentlich beruhigen sollte, löste es den genau gegenteiligen Effekt aus. Der Täter hatte ihr frech ins Gesicht gelacht, und sie hatte nach ihm gespuckt. Am selben Abend war sie von großen Schmerzen ergriffen worden, und seitdem ist sie nicht imstande gewesen, selbstständig aus dem Bett aufzustehen. Den ganzen Weg zum Disibodenberg hatte sie am Boden des Wagenkastens gelegen und gejammert, und ihr Bruder hat sie ins Infirmarium tragen und sie ins Bett legen müssen.
    Sie will Hildegards Hand nicht loslassen. Sie flüstert, und Hildegard muss sich über sie beugen, um hören zu können, was sie sagt. Sie schlägt die Decke zur Seite, sie will Hildegard ein Geheimnis zeigen, das sie angstvoll mit sich trägt. Vom Knie bis zum Schoß verläuft eine dicke, rote Narbe. Da, wo die Geschlechtsbehaarung beginnt, teilt sie sich in zwei Verläufe. Auf jeder Seite der Narbe bildet die Haut einen kleinen, harten Wall. Vorsichtig berührt Hildegard das Mal. Er hatte ihr ein Messer an die Kehle gehalten und ihre Beine mit einem Feuerhaken auseinandergezwungen, nachdem er ihn über die glühendenKohlen der Feuerstelle gehalten hatte. Er hat sie gebrandmarkt wie ein Tier. »Du gehörst mir«, hatte er geflüstert, »denn jetzt will dich kein anderer Mann mehr.«
    Hildegard fragt, ob sie geschrien habe, ob sie versucht habe zu fliehen, ob sie Begierde gefühlt habe. Margreth schließt die Augen und schüttelt den Kopf. Dann lehnt sie sich über die Bettkante und übergibt sich.
    Hildegard bleibt stehen, während einer der Novizen das Erbrochene aufwischt. Margreth trägt das Mal der Schlange, aber sie hat ihren Kampf gegen den Satan nicht aufgegeben. Hildegard betet für sie, und sie kommt zur Ruhe. Margreth hat kein Fieber, aber ihr Gesicht glänzt, und ein scharfer Gestank umgibt sie. Mit geschlossenen Augen erzählt sie von ihrer Familie. Seit sie ein kleines Mädchen war, wollte sie ins Kloster, aber ihre Familie wollte ihrem Wunsch nicht nachkommen. Hin und wieder halten ihre Brüder sie zum Narren und rufen sie die Heilige . Seit dem Unglück wird sie von Erscheinungen geplagt. Den einen Augenblick durchlebt sie die Vergewaltigung noch einmal, den anderen ist sie sicher, dass sie ein Teufelskind in sich trägt. Nachts wird sie von hässlichen Träumen heimgesucht, in denen mehrere Männer sie jagen und ihr die Kleider vom Leib reißen, um sich an ihr zu vergreifen.
    Hildegard schweigt, während Margreth spricht. Danach ermahnt sie sie, Nahrung zu sich zu nehmen, und sagt, dass es eine ebenso große Sünde ist, nicht auf

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