Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
bekommen, muss sich aber ihrem Beichtvater fügen, der ihr nur anrät, zu fasten und über bestimmte Stellen der Schrift zu meditieren.
Erst Anfang Mai scheint es, als würden die dunklen Gedanken ihren Griff um Hildegard lösen. Sie spielt wieder auf dem Psalterium, schöner als jemals zuvor, und Jutta öffnet die Läden, um zu lauschen. Uda ist im Laufe des Winters gealtert und stehtnicht mehr aus ihrem Bett auf. Hildegard füttert sie mit Suppe und weichem Brot und kümmert sich wie eine Tochter um sie. An einem der wärmsten Tage im August erweist der Herr sich gnädig und nimmt sie zu sich. Nach der Beisetzung bleibt Hildegard am Grab stehen. Die Erde ist trocken und hell, die Luft zittert vom Gesang der Grashüpfer und der stehenden Hitze.
Niemals sollst du wanken,
so du wirst geprüft.
Der Herr lässt den Tod erzittern,
die Schlange er vernichtet,
die in des Paradieses Garten
zu Eva sprach und sie verlockte.
Der Kondukt hält am Friedhofstor inne. Sie lauschen. Hildegard singt, aber niemand kennt den Psalm.
Niemals sollst du wanken,
so du wirst geprüft.
Eine Frau, die brachte den Tod,
eine Jungfrau, die ihn überwand,
denn Gott wurde Mensch
in einer Jungfrau, die gesegnet ward.
Ihre Stimme ist klar und hell wie die der jüngsten Novizen. Es ist etwas Beunruhigendes in ihrem Gesang, etwas Fremdartiges und gleichzeitig Wohlbekanntes. Abt Kuno treibt die jüngeren Brüder an, weiterzugehen, bleibt aber selbst gemeinsam mit Volmar stehen. Sie schweigen, Hildegard singt den Psalm noch einmal. Dieses Mal dringt der Klang noch klarer zu ihnen, ein kühles Bad in der Mittagshitze. Dann kniet sie einen kurzen Augenblick am Grab nieder, bevor sie sich abwendet und den schmalen Pfad zurück unter die Ulmen geht.
»Der Psalm?« Abt Kuno schwitzt, sucht Schatten.
Hildegard nickt ernst. Sie sieht über den Friedhof. Als sie zum Disibodenberg kam, war die Friedhofsmauer an vielen Stellen völlig zusammengefallen, jetzt ist sie wieder aufgebaut, und die Anzahl der Gräber hat sich verdoppelt.
»Ich habe ihn selbst erdacht, ehrwürdiger Vater«, sagt sie geradeheraus.
»Und die Worte?«
»Sowohl die Worte als auch die Melodie.«
»Wann?«
»Während ich an Udas Bett wachte, die Worte waren ein Blitz, der niederfuhr. Sie zogen die Melodie nach sich wie eine …«, sie zögert und lächelt verlegen.
»Wie eine …?«
»Wie eine Blumenranke, die sich windet und über einen steinernen Wall kriecht, sich um die Stämme der Bäume schlingt, ihre zarten Trompeten öffnet und ihren duftenden Gesang abgibt.«
Abt Kuno lässt seinen Blick über die Gräber schweifen. So hat er Hildegard noch nie sprechen hören. Auch Volmar ist verwundert. Er kennt Hildegards Liebe zur Musik, und natürlich hat er sie schon singen und auf dem Psalterium spielen hören. Aber es sind immer Davids Psalmen gewesen, dieselben Worte und Melodien, die die Brüder jede Woche singen.
»Das war schön«, sagt Kuno, während er sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn trocknet, »anders, aber schön.«
Hildegard sucht Volmars Blick. Da ist ein fremdes und triumphierendes Blitzen in ihren Augen. »Vielleicht beinahe zu schön«, sagt Kuno und tritt wieder hinaus in die Sonne. »Unterkeinen Umständen kann ich zulassen, dass die Brüder solches zu hören bekommen.«
Hildegard bleibt auf dem Friedhof stehen. Volmar verharrt zwischen ihr und Kuno, breitet die Arme aus und folgt seinem Abt.
»Musik ist, Gott zu preisen! Wie kann etwas zu schön sein für Gott?« Hildegard holt sie ein. Volmar kann sehen, dass sie verletzt ist.
»Frauenstimmen können das Feuer der Sünde in des Mannes Gedanken und Fleisch entfachen«, antwortet Kuno, ohne anzuhalten.
»Lobgesang hält zur Frömmigkeit an und entfacht keine Sünde!«, fährt sie auf, obwohl Volmar hinter Kunos Rücken signalisiert, sie solle ihr Temperament zügeln.
»Hildegard!« Kuno dreht sich wütend zu ihr um. »Wie kannst du es wagen, mir zu widersprechen?«
Hildegard steigen Tränen in die Augen, und Kuno, der ihre Unbeherrschtheit mit Gram und Kummer über den Tod des Dienstmädchens verwechselt, lässt sich besänftigen. Er fertigt sie mit einer Handbewegung ab und geht in sein Haus, ohne noch etwas zu sagen. Die Tür fällt mit einem Schlag hinter ihm ins Schloss.
Ratlos bleibt Volmar vor dem Haus des Abts stehen. Er kann jedes Gefühl lesen, das in Hildegard tobt, sie macht auf dem Absatz kehrt.
Auf halbem Weg zum Infirmarium hält sie an. Sie hebt
Weitere Kostenlose Bücher