Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
zuvor.
»Zuerst dein Vater, dann Uda. Das ist der Grund, warum wir uns nicht mehr an einen Menschen binden sollen als an den anderen«, sagt Jutta. »Tun wir das nicht, werden die unvermeidlichen Verluste unsere Aufmerksamkeit für Gott nicht stören.«
Hildegard antwortet nicht, denn das Einzige, was sie sagen könnte, wagt sie kaum für sich selbst zu formulieren.
Weder Hildeberts noch Udas Tod haben etwas mit ihrer Verzweiflung zu tun. Was sie plagt, sind die Gedanken an das Verbot des Abts, nicht singen zu dürfen, von denen sie sich nicht befreien kann. Sie schämt sich ihres Starrsinns: Es sollte ihr genügen, dass Jutta und der Herr ihre Lobpreisungen hören, aber sie verlangt nach mehr. Sie lauscht den Tönen, die die Stille hervorlockt. Da ist eine Stelle in ihr, an der die Laute und Anblicke des Alltags mit ›Dem Lebenden Licht‹ verschmelzen und schön und verwandelt wieder auferstehen. Sie konzentriert sich und greift nach den neuen Tönen, dem Vogel im Käfig, dem Herz zwischen den Gitterstäben der Rippen. Kummer ist Rauch, der im Licht sichtbar wird, der zu einem Bogen gespannt wird und einen Pfeil schwirrend in den Himmel schickt. Hildegard kann sich nicht zufriedengeben. Flatterhafte Finger fliegen über die Saiten, dicke Stängel verwickeln sich ineinander, die zarten, hellroten Kelche der Zaunwinden, ein Chor offener Münder, eine Himmelsleiter aus Kristall.
Nachts träumt Hildegard vom Schlund der Hölle. Zahnstocherdünne Beine stechen zwischen den scharfen Zähnen hervor, an den Füßen tragen sie Hildeberts Stiefel. Sie packt die Beine, um den Mann herauszuziehen, damit sie sehen kann, ob es wirklich ihr Vater ist, aber stattdessen wird sie selbst in den stinkenden Schlund gerissen. Sie kämpft dagegen an, kratzt dem Ungeheuer Löcher in die weichen Innenseiten seines Munds, kann aber nicht freikommen. Tief unten in dem Schlund lacht jemand, es klingt wie Hildebert. Sie gibt den Kampf auf, ergibt sich, die Beine geben unter ihr nach, sie fällt und fällt, bis die Angst ihren Griff löst. Weit weg kann sie immer noch Hildeberts Lachen hören, es wird heller und heller, bis ein Brausen aus Tausenden von Stimmen über ihr zusammenschlägt.
Als sie aufwacht, ist sie ruhig, bis sie anfängt zu denken. Ist es der Gesang, der sie in den Höllenschlund stößt? Zerrt die Sünde so stark an ihr, dass sie ihre Frömmigkeit aufgeben will, um ihren Willen zu bekommen? Oder ist es im Gegenteil der Gesang, der den Sünder vor der Verdammnis rettet, indem er seine Taue bis hinauf in den Himmel windet?
Im Infirmarium ist eine schwangere Frau. Sie wird von Schuld und Schmerzen geplagt. Die Brüder warten auf Hildegard, denn sie wollen sie nicht selbst berühren. Sie liegt in der Abteilung der Wohlhabenden, sie hat das Gesicht zur Wand gedreht und schläft unter einer dünnen Wolldecke. Eine Säule aus Licht öffnet sich vor Hildegard, ›Das Lebende Licht‹ spricht zu ihr, obwohl sie nicht alleine ist. Sie wendet die Handflächen zur Decke.
»So zeige es mir«, flüstert sie, »zeige mir, was ich wissen soll.«
Die Wand verschwindet in einem Meer aus tanzenden Lichtpunkten. Der ganze Raum schwebt in Licht, ein tiefer und breiter Brunnen tut sich auf, voll von stinkendem Nebel. Sie muss sich eine Hand vor den Mund halten, so ekelhaft ist der Gestank. Der Nebel kriecht aus dem Mund des Brunnens, wird zu einer Schlange mit kleinen Augen. Direkt neben dem Brunnen liegt ein schöner Mann, er trägt keine Kleider, schämt sich seiner Nacktheit nicht. Die Schlange schneidet durch seinen Rücken, er legt eine Hand hinter sein Ohr und horcht in den dunklen Brunnen hinab. Durch die Rippen des Mannes geht eine blendend weiße Wolke in der Form einer Frau, ihr Schoß ist mit glitzernden Sternen besprenkelt. Die Schlange haucht die Wolke an, es ist schwer, Luft zu holen. Es ist Luzifer, den Gott zu seinem schönsten Engel gemacht hat, der aber so in seine eigene Schönheit vernarrt war, dass er Gott gleich sein undseinen eigenen Thron im Himmel bauen wollte. Luzifer musste fallen: Feuerräder, verbrannte Zungen, schwarze Federn, die zur Faust geballte Hand, Finger, die nicht mehr ausgestreckt werden, um Gottes Gaben entgegenzunehmen. Zwei Herzen können nicht in einer Brust schlagen, zwei Götter können nicht im Himmel regieren. Der Satan kleidet sich in Chaos und Schlangenhaut, er erhebt sich vor Hildegards Gesicht, sie kann seinen glühend heißen Atem spüren. Genauso deutlich wie sonst den Herrn,
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