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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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die Hand, der Zeigefinger schwingt wie ein Pendel durch die Luft, aber sie sagt nichts.
    »Hildegard«, Volmar ist ihr dicht auf den Fersen, seine Stimme beruhigt sie nicht. Sie schnaubt, hebt den Saum ihrer Tracht und stürmt weiter Richtung Infirmarium.
    Den Rest des Tages sprechen sie nicht darüber. Als sie sich vor der Non trennen, kann Volmar nicht länger an sich halten.
    »Wenn es ein Nonnenkloster wäre, Hildegard«, beginnt er.
    »Ja?«
    »Dann könnte dein Psalm vielleicht besser …«, er zuckt mit den Schultern.
    »Es sollte ausreichen, dass es ein Kloster ist, Volmar. Ich bin mir darüber im Klaren, dass die Sünde am Herzen eines jeden Menschen nagt, aber …«, sie zuckt mit den Schultern.
    Volmar weiß nicht, was er sagen soll. Es kommt ihm idiotisch vor, das Gespräch überhaupt begonnen zu haben, und jetzt wünscht er sich nur, es möge so schnell wie möglich beendet sein. Er wollte die Wogen glätten, hat die Wunde aber stattdessen weiter aufgerissen.
    »Du liebst den Frieden, Volmar«, sagt Hildegard. Ihre Stimme ist plötzlich sanft und leicht. »Aber es ist nicht gerecht, mir zu verbieten, den Herrn mit den Fähigkeiten zu preisen, die er mir selbst gegeben hat.«
    »Gerechtigkeit …« Volmar faltet die Hände vor der Brust. Über Gottes Gerechtigkeit können sie nichts wissen.
    »Dies ist ein Kloster, Volmar. Wir beten und arbeiten und singen zum Lobpreis des Herrn. Gott hat die Schönheit geschaffen, um uns zu erfreuen.«
    »Es gibt Unterschiede zwischen Männern und Frauen«, versucht er. »Die Begierde des Mannes entzündet sich leichter, sein Feuer ist stärker, sein Kampf gegen die Lust des Fleisches größer.«
    »Der Kampf gegen die Sünde ist eines jeden Menschen Kampf«, antwortet sie scharf, »die fromme Schönheit brennt die Sünde fort.«
    »Es gibt Mönche in diesem Kloster, die so heftig von denVersuchungen des Fleisches geplagt werden, dass ich ihnen Extrakt des Schierlings verabreichen muss, um den Trieb zu dämpfen«, flüstert er, und ausnahmsweise schweigt Hildegard. »Ich weiß, dass es damals große Proteste dagegen gab, dir und Jutta überhaupt Einlass ins Kloster zu gewähren, und zwar aus ebendiesem Grund.«
    »Dann sollte ich vielleicht fortgehen«, antwortet sie mit harter Stimme. »Einen Ort finden, wo es keine Männer gibt, sondern nur Frauen, die aus reinem Herzen den Herrn anbeten.«
    Volmar fällt nichts ein, was er darauf antworten könnte. Hildegards Worte klingen wie eine Drohung, und das macht ihm Angst. Vielleicht wird der Herr ihn doch dafür strafen, dass er sich zu stark an Hildegard gebunden hat? Gedanken daran, sie zu verlieren, bereiten ihm die größte Sorge, und für gewöhnlich schiebt er sie beiseite. Aber sowohl, als er Udas Leib im Grab verschwinden sah, als auch jetzt, da Hildegard den Gedanken äußert, Disibodenberg zu verlassen, zieht sich sein Herz zusammen. Er beugt sich vor, stützt die Hände auf die Knie.
    »Volmar?« Die Härte in Hildegards Stimme ist verschwunden, »Volmar, bist du krank?«
    Er schüttelt den Kopf, richtet sich auf und fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Hierüber kann er nicht mit Hildegard sprechen, das wäre nicht richtig.
    »Volmar, sprich zu mir.«
    »Gott wird dir den Weg zeigen und dir bedeuten, was du tun sollst«, sagt er neutral, während Hildegard stehen bleibt, ratlos und plötzlich traurig.
 

 

21
      
Einige der Brüder brauchen Extrakt vom Schierlingskraut, um die Lust des Fleisches zu bekämpfen, und trotzdem sind sie bei guter Gesundheit. Hildegard denkt darüber nach, ob ihre eigene Sünde größer ist als die der Brüder, da sie mit so heftigen Schmerzen gestraft wird.
    Uda ist tot und hat eine gewaltige Stille hinterlassen. Hildegard fragt Jutta, ob sie nach einem neuen Dienstmädchen schicken sollen. Jutta will mit dem Abt sprechen und ihn bitten, die Sache zu entscheiden. In der Zwischenzeit muss Hildegard für Jutta sorgen. Sie holt das Essen in der Küche und trägt den Topf hinaus.
    Nur wenn Hildegard für Jutta spielt, findet sie Ruhe vor ihren Gedanken. Jutta öffnet die Läden und lauscht. Da ist eine neue Traurigkeit, ein verzweifelter Ton, der von Hildegard ausgeht und ins Psalterium strömt. Jutta bemerkt es.
    »Wir trauern über die, die wir verlieren, obwohl wir wissen, dass wir sie im Garten des Paradieses wiedersehen werden«, sagt sie, und Hildegard nickt.
    Sie hört sowohl Kummer als auch Zorn in der Musik und spürt, dass es den Ton tiefer und schöner macht als

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